Die zweifelhaften Vorteile
steter Steigerung
Zu den biologischen
Bausteinen des Menschen gehören nach Lorenz "schier unwiderstehliche,
phylogenetisch programmierte Verhaltenstendenzen". Zu nennen sind hier
Machtgier und Statusstreben, vor allem aber die Freude am Wachstum von Besitz.
Wirtschaftswachstum wird definiert als die Zunahme der Gesamtproduktion
von Gütern und Dienstleistungen innerhalb eines bestimmten Zeitraumes,
meist eines Jahres. Es bringt auf den ersten Blick nur Vorteile. In Deutschland
ist die Regierung sogar gesetzlich verpflichtet "zur Förderung
der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft". Wirtschaftswachstum
heißt Steigerung des Sozialprodukts, also des Ausstoßes von
Waren und Dienstleistungen. Alle gesellschaftlichen Gruppen profitieren
vom Wachstum: die Unternehmer, weil ihre Gewinne steigen, die Gewerkschaften,
weil sich mehr Spielraum für Lohnerhöhungen bietet, die Laden-
und Gaststättenbesitzer, weil eine höhere Kaufkraft bessere Geschäfte
verspricht, die Banken, weil die Sparquote steigt - und die Politiker sonnen
sich im vermeintlichen Erfolg ihrer Politik und hoffen darauf, daß
der Streit um einen größer gewordenen Kuchen nicht so heftig
ausfällt wie der um einen kleineren.
In der Tat lehrt die Geschichte, daß Wirtschaftkrisen, also Stagnation
oder Schrumpfung des Produktionsausstoßes, politische Instabilität
auf dem Fuß folgt. Historiker verweisen auf die Tatsache, daß
der Aufstieg des Nazismus durch die Weltwirtschaftskrise 1929 gefördert
worden ist. Auch die Oktoberrevolution von 1917 wäre nicht denkbar
gewesen ohne die ihr vorausgehende ökonomische Zerrüttung Rußlands.
Und ohne das Wirtschaftsdesaster der Planwirtschaft gäbe es heute noch
die Sowjetunion und die weltpolitische Rivalität zweier Ideologien.
Auch der Dritten Welt sollte nach Meinung deutscher Politiker und Wirtschaftsexperten
am steten Wachstum im Norden gelegen sein. Je höher das Sozialprodukt,
je mehr also zu verteilen sei, desto mehr Entwicklungshilfe sei möglich.
Wachstum im Norden und im Süden sei das Rezept gegen Hunger, Elend
und Unterentwicklung. Die Entwicklungsländer sollen ihre Rückstände
bei der Versorgung mit Gütern, der Verfügung über Technologien
und der Industrialisierung aufholen, so raten viele Experten, und so sieht
es das Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.
Die gleichen Experten setzen darauf, daß Wachstum und die Hilfe zum
Wachstum - Entwicklungshilfe - selbst bei ungerechter Verteilung Armut und
Elend abbauen würden. "Trickle-down-Effekt" heißt das
auf neuhochdeutsch: Die Bundesregierung hofft auf ein gesundes weltwirtschaftliches
Klima mit stetigem Wachstum, niedrigen und stabilen Zinsen sowie offenen
Märkten, während die Entwicklungsländer bei sich entwicklungsfördernde
politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen schaffen sollen. Auch Geld,
das hauptsächlich in den Taschen der Reichen lande, sickere irgendwie
und irgendwann "nach unten" durch. Nach dieser Logik bedeutet
mehr Reichtum für die Reichen schließlich mehr Wohlstand für
alle. Das Gegenteil ist wahr.
Aber nützliche Vorurteile leben länger. Schon 1969 hatte eine
Kommission unter dem ehemaligen kanadischen Außenminister Lester Pearson
mit guten Gründen gezweifelt an der beliebten These, daß Wachstum
quasi im Selbstlauf zu Entwicklung führe. Er verwies vor allem auf
ungleiche weltwirtschaftliche Bedingungen für Industrie- und Entwicklungsländer.
Pearson prägte die Forderung, daß die Länder des Nordens
ihre Entwicklungshilfe auf 0,7 Prozent des Bruttosozialprodukts erhöhen.
Aber darauf hörten die Adressaten trotz aller wohlklingenden Beteuerungen
so wenig wie auf die Empfehlungen der Kommission. Nach wie vor gilt das
Diktat des stetigen Mehr.
Dabei sind die Grenzen der kapitalistischen Produktionsweise offensichtlich
bereits erreicht, wie zumindest Krisen, Kriege und Katastrophen anzeigen.
Wenn es weiteren Ländern gelingt, ihre Aufholprogramme zu verwirklichen,
werden die Möglichkeiten des Nordens sinken, billige Ressourcen zu
beschaffen. Die heutige Weltwirtschaftsordnung bezieht ihre Kraft aus dem
Unterschied zwischen armen und reichen Ländern, so wie ein Verbrennungsmotor
seine Energie aus den Druckunterschieden im Zylinder über und unter
dem Kolben bezieht. Würde unser Wirtschaftsmodell sich weltweit durchsetzen,
würde ihm die Gleichförmigkeit die Kraft rauben und der Niedergang
jedem Blinden sichtbar werden. Nach Ansicht von japanischen Wissenschaftlern
sind die Grenzen des Wachstums schon heute überschritten, und deshalb
fordern sie, die Warenproduktion zu drosseln, um zu versuchen, ein neues
Gleichgewicht herzustellen.
Auch die Technik des Nordens erzielt keinen "Durchsicker-Effekt",
denn sie dient unseren Bedürfnissen als reiche Verbraucher, der Verbesserung
der Landwirtschaft in Zonen mit gemäßigtem Klima und der Einsparung
menschlicher Arbeitskraft, verhängnisvolle Folgen des Fortschritts
für die Länder des Südens, wo der Lebensstandard dadurch
noch weiter zurückfällt hinter dem unsrigen.
Mit Wirtschaftswachstum lasse sich sogar das als bedrohlich empfundene Wachstum
der Menschenzahl anhalten, sagen die Experten. Als Beispiel dienen die heutigen
Industriestaaten, in denen durch große Wirtschaftskraft möglich
gewordene soziale Sicherheit die Bevölkerungsvermehrung gebremst habe.
Eine funktionierende Altersversorgung, Verbesserung des Gesundheitssystems
und gute Ausbildung erübrigten die Notwendigkeit, viele Kinder zu gebären,
die dann später die "Rente" der Eltern zu bezahlen hätten.
Wachstum ist das Geheimnis des Erfolgs der Industriestaaten im Norden. Seit
sich im 19. Jahrhundert die kapitalistische Warenwirtschaft unter starken
Geburtswehen durchsetzte, haben sich die Kategorien im Denken der Menschen
drastisch gewandelt. Religion und Familie wurden in den Hintergrund gedrängt
durch die schlagkräftigen Paradigmen des gigantische Reichtümer
produzierenden Kapitalismus. Der Status des Menschen wurde verkoppelt mit
dessen Stellung im Wirtschaftsprozeß. Das unablässige Streben
nach beruflicher Karriere und nach einem höheren Lebensstandard wurde
zur gesellschaftlich anerkannten Maxime.
Wie lange benötigten die Menschen in den Jahrhunderten zuvor, um ihr
Los ein wenig zu mildern! Im Schneckentempo, und nicht selten in die falsche
Richtung, bewegte sich die Wirtschaft. Das Vierfeldersystem war für
damalige Verhältnisse eine Revolution - nach unseren Maßstäben,
die wir Saatgut nicht einfach ernten und wieder anpflanzen, sondern in Eigenregie
herstellen, ist es eine Petitesse. Fünf Jahrtausende brauchte es, bis
sich aus primitiven Bodenkratzern der moderne Pflug entwickelte, heute verlassen
die neuen Computergenerationen im Halbjahresrhythmus die staubarmen Fabriken.
Gewiß, Fortschritte im Handel machten nicht nur die Welt offener,
sie führten auch zum Austausch von handwerklichen Fertigkeiten. Aber
letztlich blieb die Produktivität gebunden an die Begrenztheit des
Bodens, den die Landwirte bebauten.
Der Paukenschlag der Wirtschaftsgesellschaft läßt sich in einer
schlichten Formel ausdrücken: y = f(A, K, F) - das Sozialprodukt ist
das Resultat des Einsatzes (mathematisch "Funktion": f) von Arbeit
(A), Kapital (K) und Fortschritt (F). Der Boden kommt nicht mehr vor, es
sei denn als Kapital. Das Zusammenwirken von Arbeit und Natur wird abgelöst
durch die Kooperation von Arbeit und Kapital. Auf diese Weise dringt das
Geld ein in den Produktionsprozeß. Geld ist beliebig haltbar und vermehrbar,
die neue Produktionsweise kennt keine Beschränkungen.
Die Entkoppelung des wirtschaftlichen Fortschritts von der begrenzten Ressource
Boden macht den Menschen zum alleinigen Urheber des gesellschaftlichen Reichtums,
entweder durch seine Arbeitskraft oder durch die Mittel, die er schafft,
um deren Wirkung zu potenzieren. Das Ziel der Produktion ist nun die Vermehrung
von Kapital, das sich in Geld ausdrückt. Wie das Geld, erscheinen nun
auch die Waren, die man dafür kaufen kann, beliebig multiplizierbar.
Der Bremsfaktor Natur wurde aus der Rechnung entfernt. Der Erfolg dieser
Methode hat lange Jahrzehnte jeden Zweifel niedergetrampelt. Die Verwandlung
des Bodens in eine, nicht einmal die wichtigste Existenzform des Kapitals
war nach einem Satz des Ökonomen Hans Christoph Binswanger ein "alchimistischer
Verwandlungsprozeß von Natur in Geld", der es dem Menschen ermöglicht
hat, die Natur zu beanspruchen und doch ihrer Endlichkeit zu entkommen.
Mit dem technischen Fortschritt gewinnt das Kapital noch an Kraft, der Boden
und andere natürliche Ressourcen verlieren so vollends jede eigenständige
Bedeutung.
Die Arbeitsproduktivität in Deutschland, der Produktionsausstoß
pro Kopf, hat seit 1952 um mehr als 500 Prozent zugenommen. Der technische
Fortschritt als Wachstumsinstrument und Wachstumsstimulans, besonders die
elektronische Revolution, kennt keine Grenzen der Steigerung. Statt dessen
ist ein "Wachstum der Grenzen" angesagt. Und sind die Pessimisten
etwa des Club of Rome nicht glänzend widerlegt worden? Rohstoffmangel?
Wenn einer fehlt, ersetzen wir ihn durch einen anderen. Umweltverschmutzung?
Haben wir im Griff, weil unsere Wissenschaft und unsere Technik Riesenschritte
macht. Nein, neues Wachstum ist vonnöten, und eine neue Branche, die
Umweltindustrie, marschiert in Riesenschritten. Der internationale Wettbewerb
tobt bereits, Deutschland darf seine Spitzenstellung nicht verlieren. Arbeitsplätze,
ohnehin schon Mangelware, stehen auf dem Spiel. Japan, die "kleinen
Tiger" Asiens - Taiwan, Hongkong, Singapur und Südkorea - machen
Dampf und der europäischen und amerikanischen Industrie das Leben schwer.
Die Mehrzahl der Computer-Hauptplatinen kommt aus Taiwan. Andere Länder
wie die Volksrepublik China oder Indien verschärfen durch Niedriglöhne
die Konkurrenz. In der Wachstumsbranche Elektronik laufen einstige Zwerge
dem Noch-Handelsriesen Deutschland den Rang ab. Was hilft gegen das Wachstum
der anderen, das einem Märkte wegnimmt und dadurch zum Schrumpfen verurteilt?
Eigenes Wachstum, Steigerung der Arbeitsproduktivität, Kostensenkung.
Das sind, gemessen an den Erfordernissen des weltweiten Wettbewerbs, geradezu
absolute Weisheiten, auch wenn sich manche verbal daran vorbeimogeln wollen.
Kein Politiker, der nicht zum Sektenprediger herabgestuft werden will, kommt
an diesen Gesetzen vorbei. Wer sich dem Wachstumskurs versagt, ist weg vom
Fenster in der eigenen Partei und beim Wähler. Es gibt keine "guten
Wähler" und "schlechten Parteien", sondern eine stete
Wechselwirkung von beider Lebens- und Machtansprüchen. Die Ansprüche
des Wählers sind Forderungen an die Politik. Selbst die vernünftigste
Politik hat keine Chance, wenn sie die Grundbedürfnisse der Wähler
ignoriert. Und der Wähler verlangt wirtschaftliche Stabilität,
soziale Sicherheit und wenigstens auf lange Sicht die Vergrößerung
seines Besitzstandes. Das hat ihm die Politik über Jahrzehnte versprochen,
und das ist der Sinn aller Wirtschaft. Die Politik mißt ihren Erfolg
zuerst an der Frage, ob sie den Maximen des Wählers gerecht geworden
ist - zumindest in dessen Einbildung.
Der Druck der Wirtschaftswirklichkeit auf alle Bürger und Politiker
ist kaum zu überschätzen. Bis tief in das Unterbewußtsein
hinein hat der Wachstumswahn unser Hirn durchdrungen. Kein Unternehmen in
dieser Welt, das nicht darauf aus wäre, mehr herzustellen und mehr
zu verkaufen. Es war kein Zufall, daß ökologische Alternativen
erst in den achtziger Jahren zart keimten, als die Konjunktur boomte und
die Verteilungs- und Denkspielräume so groß waren wie nie zuvor.
Die Lage hat sich drastisch geändert, seit die Ausweitung und Verschärfung
der internationalen Konkurrenz und der ökologische Rückschlag
des dreißigjährigen Wirtschaftswunders Tribute fordern. Heute
sind die Grünen der linke Flügel der Wachstumsgesellschaft, die
sie einst abgelehnt hatten. Das ist nicht erstaunlich, beruhen doch alle
bisherigen Gesellschaftsmodelle und Reformbestrebungen letztlich auf der
Idee, wie fortwährendes Wachstum gesichert werden könnte. Die
Entfesselung der Produktivkräfte forderten bereits Marx und Engels.
Und der Sozialismus sowjetischen Typs ist gescheitert an seiner Unfähigkeit,
Wohlstand zu produzieren.
Bei aller Gegensätzlichkeit, Kapitalismus und Sozialismus stützen
sich als Wachstumsgesellschaften auf die gleichen Pfeiler, wenn sie auch
auf unterschiedliche Mittel - Plan oder Markt - setzen, um den gleichen
Zweck zu erreichen: den maximalen Zugang zu Ressourcen, die im Maßstab
menschlicher Bedürfnisse stets als knapp empfunden werden. Beide Gesellschaftsformationen
definieren Armut als Kapitalmangel. Unterentwicklung ist aus ihrer Sicht
ein Defizit an wissenschaftlich-technischem Wissen, eine Schwäche der
Infrastruktur und ein niedriger Organisationsgrad der Gesellschaft. Entwicklung
bedeutet für beide Wachstum und Industrialisierung. Johan Galtung spricht
von "dunkelblauem" und "dunkelrotem Totalitarismus".
Der "dunkelblaue Totalitarismus" setze Wachstum ohne Rücksicht
auf Entwicklung durch und lasse die Kräfte des Marktes entscheiden
darüber, welche Güter produziert werden. Der "dunkelrote
Totalitarismus" setze gleichfalls Wachstum ohne Rücksicht auf
Entwicklung durch, lasse aber Planungskräfte entscheiden darüber,
welche Güter produziert werden.
Und Kapitalismus wie Sozialismus setzen auf die Vorbildwirkung des eigenen
Wachstums und darauf, daß vom Wohlstand in den Industriestaaten quasi
automatisch etwas abfällt für die Dritte Welt. Wobei gefragt werden
muß, ob das, was wir unter Wohlstand verstehen, auch das ist, was
Menschen anderer Erdteile darunter begreifen. "Ob ein Volk im Wohlstand
lebt, hängt davon ab, was es erhofft", schreibt der amerikanische
Politologe C. Douglas Lummis zu Recht. Was uns als arm erscheint, ist für
andere reich. Manchmal scheint es durch bis zu uns, daß es da noch
etwas anderes geben muß als die Jagd nach dem Mehr. Schauen wir nicht
manchmal mit neidischem Auge auf die uns naiv erscheinende Lebenswelt von
Naturvölkern, die in anscheinend ewiger Stabilität allen ihren
Gliedern einen wohldefinierten Platz zuweist. Hatte nicht auch das vielen
Westdeutschen nicht begreifliche Gefühl des Aufgehoben-Seins in der
gestorbenen DDR einen ganz eigentümlichen Reiz auf den Außenstehenden.
Als Einladung, einmal kurz darüber nachzudenken, daß es ein Leben
neben der Wirtschaft gibt (was gelernte DDR-Bürger allerdings neidvoll
als Wachstumshemmung ihres Systems beklagten). Selbst in ihrer Verfälschung
hatte die Solidarität ihren verlockenden Glanz nicht gänzlich
eingebüßt. Wir sind wahrlich arm geworden durch unseren Reichtum.
Menschliche Werte gelten vielen unserer Politiker gerade noch als rethorische
Stilmittel, um gezielt Emotionen zu erwecken. Aber es wäre falsch,
ihnen allein diese Verbiegung anzulasten. Denn wir würden einen Politiker,
der das Wachstumsgebot mißachtet, einfach wegblasen. Stelle sich doch
mal einer hin und fordere, die stete Steigerung zu beenden. Vollkommen zu
Recht würde ihm vorgehalten, daß dies Arbeitsplätze und
Wohlstand kosten müßte und daß die politische Stabilität
leiden würde. Auch sei dann Entwicklungshilfe politisch nicht mehr
durchzusetzen. Alle diese und andere Folgen wären nicht zu leugnen.
Und doch wäre ein Wachstumsstopp die einzige Chance. Aber solange es
keine anderen Konzepte gibt, um die Gefahren und Nöte dieser Welt zumindest
abzuschwächen, werden die Menschen Wachstum feiern und sich an die
Vorstellung klammern, daß es trotz aller nicht mehr völlig zu
verdrängenden Malaise den Schlüssel zu einer besseren Zukunft
darstellt.
In den achtziger Jahren, als die Schäden des Wirtschaftswachstums unübersehbar
wurden, während die Konjunktur sich bester Gesundheit erfreute, leisteten
sich Wissenschaftler einige Zweifel an den Maßstäben, an denen
wir uns orientieren. Sie kritisierten die bis heute gültige Tatsache,
daß privatwirtschaftliche Unternehmen Kosten, die ihrer Produktion
zuzuordnen wären, auf die Gesellschaft abwälzen. Auch die herrschende
Volkswirtschaftslehre und einige ihrer zentralen Begriffe wurden bemängelt.
Etwa, daß die Wissenschaft von der Ökonomie ihren Stellenwert
vor allem bezieht aus den Wegen zum Wachstum, die sie eröffnet. Daß
sie die Natur herauserklärt aus dem Produktionsprozeß und sie
in einen Gegenstand der Tauschwirtschaft verwandelt, dessen Wert sich in
Geld ausdrückt.
Volkswirtschaftlicher Gradmesser für Erfolg oder Mißerfolg ist
seit 1953 das Bruttosozialprodukt (BSP). Es umfaßt den Geldwert aller
in einem Zeitraum erstellten Güter, also der Waren und Dienstleistungen
nach Abzug der als Vorleistungen verbrauchten Güter, beispielsweise
der Ersatzinvestitionen. Dahinter steht die Annahme, daß die Welt
ein einziger riesiger Marktplatz sei, auf dem die Nationen um Rang und wirtschaftliches
Ansehen wetteifern. Produktivität heißt die Verhaltensnorm, sie
ist der anthropologische Maßstab unserer Existenz, seit die Wirtschaftsgesellschaft
gesiegt hat. Das BSP ist laut der jüngsten Auflage der "Brockhaus
Enzyklopädie" nach wie vor ein "wichtiger Indikator für
wirtschaftliches Wachstum und Konjunkturanalyse". Ein seltsames Meßinstrument
ist dieses "hochaggregierte Konstrukt" , mit dem wir den Erfolg
unserer Wirtschaftstätigkeit bestimmen, indem wir die Preise von Grundstoffen,
Zwischenprodukten und Endprodukten addieren, Werte also gleich mehrfach
zusammenzählen. Anderes sparen wir bei dieser eigentümlichen Addition
einfach aus, obwohl es in unserer Gesellschaft von großer Bedeutung
ist, aber keinen Preis hat, vor allem die Hausarbeit in ihren vielfältigen
Formen, wie sie vor allem Frauen leisten. Anders gesagt: Heiraten Sie ihren
Koch oder ihre Köchin, und sie senken das BSP, denn Hausarbeit in ihren
vielfältigen Formen taucht nicht auf in der "volkswirtschaftlichen
Gesamtrechnung".
Genausowenig wie die Natur. Der Berliner Ökonom Christian Leipert hat
in einer bahnbrechenden Arbeit über "die heimlichen Kosten des
Fortschritts" minuziös herausgearbeitet, daß Umweltzerstörung
das Bruttosozialprodukt sogar steigen läßt, weil die Investitionen,
die getätigt werden müssen, um die Schäden zu beheben oder
zu begrenzen, als Gutschriften erscheinen, die Schäden aber aus der
Bilanz ausgeklammert werden. Würde ein Unternehmer seine Einnahmen
als Gewinne ausweisen und sich weigern, anfallende steigende Ersatzinvestitionen
und Reparaturkosten zur Kenntnis zu nehmen, so würde ihm die marktwirtschaftliche
Realität bald eine gnadenlose Lektion erteilen. Im gesellschaftlichen
Maßstab aber wird exakt dieses Verfahren praktiziert, wenn es um Beschädigungen
der Natur geht. Wurde früher das Bruttosozialprodukt zu hoch ausgewiesen,
weil die Überbeanspruchung der Natur nicht berücksichtigt wurde,
so steigern laut Leipert heute die "defensiven Aktivitäten"
- Umweltschutz, Reparatur und Schadenssanierung - das Bruttosozialprodukt.
Je rascher das BSP wächst, desto schneller verlieren wir an Lebensqualität.
Es tritt demnach das Gegenteil von dem ein, was die Tonnenideologie verheißt.
Wenn ein Chemiegigant den Rhein vergiftet, dann sind die Folgen und ihre
Ursachen offenkundig. Dann erregen sich Politiker und Medien. Die meisten
und wirksamsten ökologischen Schäden unserer Wirtschaftsweise
aber sind nicht so spektakulär und viel komplexer mit ihren Ursachen
verknüpft. Sie entziehen sich daher unserer Wahrnehmung, vor allem
der Wahrnehmung unserer Medien.
Christian Leipert hat detaillierte Berechnungen vorgelegt, aus denen unter
anderem hervorgeht, daß in der Bundesrepublik Deutschland der Anteil
der "Reparaturkosten" zwischen 1970 und 1988 von knapp sieben
auf fast zwölf Prozent gestiegen ist. Leipert: "Folgekosten des
Wachstumsprozesses stimulieren das Wachstum der Zukunft." Je höher
die Schäden und die sich aus ihnen ergebenden Aufwendungen, desto besser
steht Deutschland da im internationalen Vergleich.
Bruttosozialprodukt und Pro-Kopf-Einkommen als internationale Vergleichsmaßstäbe
sind aber auch in anderer Hinsicht fragwürdige Meßlatten. Bei
Gesellschaften mit einem hohen Anteil an Selbstversorgung und einer bedeutenden
"Schattenwirtschaft" kann man das BSP nur grob schätzen,
da sich die Einkommen nicht bestimmen lassen.
Das Bruttosozialprodukt besteht im Kern aus den Komponenten "Verarbeitung
natürlicher Ressourcen" und "Produktvermarktung". Wird
nichts verarbeitet, werden Früchte etwa im Naturzustand verzehrt, wird
ein geringeres BSP ausgewiesen. Das gleiche geschieht, wenn Produkte nicht
vermarktet werden, wie es für die Subsistenzwirtschaft typisch ist.
Eine Politik, die das Bruttosozialprodukt in der Dritten Welt steigern will,
zerstört Strukturen der Selbstversorgung und verwandelt selbständige
Bauern in Anhängsel des Weltmarkts. Sie sind die Hungernden von morgen.
Auf den großen Farmen, die Früchte für den Export nach Europa
und Nordamerika produzieren, werden viele nicht mehr gebraucht als Tagelöhner.
Nirgendwo zeigt sich das Elend des Wachstums so drastisch wie in der Zerstörung
traditioneller agrarwirtschaftlicher Produktions- und Lebensweisen.
Der mörderische Siegeszug der Statistik zerschlägt alle Werte,
die sich nicht "pro Kopf" bestimmen lassen. Solidarität pro
Kopf gibt es nicht, Heldentum, in kriegerischen Gesellschaften die wichtigste
Tugend, trägt nichts bei zum Bruttosozialprodukt. Und die traditionellen
Tänze eingeborener Stämme mögen in unseren Augen als Touristenbelustigung
einen Sinn finden. Die Globalisierung unseres Lebensstandards, der schon
längst reduziert ist auf die Größe "BSP pro Kopf",
führt Glück und Lebensfreude von Menschen in der Dritten Welt
auf die Schlachtbank unseres Kulturimperialismus. Sie werden zu Pro-Kopf-Produkten
verwurstet. In den Worten des US-amerikanischen Kulturkritikers Ivan Illich:
"Bisher haben alle Versuche, lokale Werte durch globale Waren zu ersetzen,
nicht zu mehr Gleichheit geführt, sondern zur Hierarchisierung und
Modernisierung der Armut."
Der Wachstumswahn hat sich bereits so tief in unsere Gehirnwindungen eingefressen,
daß wir ohne den Hauch eines Zweifels nur die Kultur für zivilisiert
halten, die ein bestimmtes Mindestmaß an Produktionsausstoß
schafft. Und da wir in unserem Missionseifer und mit unserer gigantischen
Medienmacht unser Vorbild ungefragt weltweit zum zentralen ideologischen
Axiom erhoben haben, haben wir damit auch die Grundlagen geschaffen für
die Vernichtung bewährter Strukturen des Wirtschaftens und Zusammenlebens
der Opfer von morgen.
Die Lebensvielfalt dieser Welt finden wir schon heute meist nur noch in
Schriften von Völkerkundlern und Fernreisenden. Werden Lebensweisen
vernichtet, sind sie unwiderruflich verloren. Den Anfang machen meist Missionare,
sie bilden die Stoßtrupps des Abendlands im unentwickelten Gelände.
Sie sind durchdrungen von der Idee, ihren Glauben, den sie für den
einzig wahren halten, bis in den letzten Winkel dieses Planeten zu befördern.
Wenn die Missionare Naturvölker erfolgreich bekehren, hat deren Niedergang
schon angefangen. Zuerst zerstören die Missionare "heidnische"
Kultgegenstände. Ihre wirksame Medizin und Geschenke verleihen ihnen
Macht, auch Riten und Rituale zurückzudrängen. Am Schluß
haben die Missionierten ihre Identität verloren.
Den Missionaren folgt die Wirtschaft auf dem Fuß. Sie walzt alles
platt, was unserem Wohlstand fremd ist. Sie ist in ihrem Konvertierungsdrang
erst befriedigt, wenn das Geld das Leben regelt. Selbstbewußte Ureinwohnern
mit einer eigenen kulturellen Identität verwandelt sie in mariginalisierte
Auswechselspieler auf dem Weltmarkt, und sei es nur, daß sie in ihnen
dankbare Abnehmer für die Nahrungsmittelüberschüsse in den
Silos des Nordens findet.
Jede bisherige Entwicklungspolitik verlangt, daß die Wirtschaft sich
ausweitet, daß der zurückgebliebene Rest des "Weltdorfes"
sich in das große Ganze einklinkt. Währende Tausende von Dörfern
für immer vom Erdball gefegt werden, jedes ein anderes als das andere,
mutiert die besten Willens beschworene "Eine Welt" zum gleichförmigen
Weltmarkt. Selbst das Saatgut verringert sich durch unsere Eingriffe auf
immer weniger Sorten, in denen jedes Korn dem anderen in seinen Eigenschaften
und Aussehen gleicht wie ein Haar dem anderen. Der Verlust der Einzigartigkeit
trifft das Getreide, das Vieh und den Menschen. Diesen als Individuum und
in den Gemeinschaften, die er bildet. In unserer "Einen Welt"
herrschen Gleichförmigkeit, Gleichzeitigkeit und Gleichklang: Fast
alle schon schauen die gleichen Fernsehserien, hören die gleiche Musik,
verfolgen die gleichen Großereignisse, die unsere Satelliten in den
letzten Winkel des Erdballs übertragen. Ganz tief in unserem Inneren
glauben wir, die Not der anderen rühre aus ihrem Anderssein. Weil sie
nicht so wirtschaften und leben wie wir, müssen sie leiden.
Der Erfolg der biologischen und nicht minder der kulturellen Evolution beruht
auf der Verschiedenheit, aus der riesigen Zahl von Möglichkeiten, die
in der Vielfalt liegt. Wird sie eingeschränkt, verlieren wir sie gar,
begeben wir uns jeder Entwicklungschance. Wie die biologische Evolution
Experimentierchancen einbüßt, weil Tausende von Varietäten
auf eine gefährlich geringe Zahl zusammengeschrumpft wurden, verlieren
menschliche Gemeinschaften in der uniformen Welt kulturelle, philosophische,
wissenschaftliche und politische Alternativen.
Der Stalinismus war als Gegenkonzept zur Marktwirtschaft untauglich. Aber
selbst diese Alternative zu unserer Lebensweise hat nicht nur Aggressionen
gefördert, sondern auch ungeheure Anstrengungen ausgelöst, die
Überlegenheit der eigenen Gesellschaft zu demonstrieren. Ist die bis
heute nachhallende Resonanz auf die romantischen Verklärungen von Rousseau
bis Margaret Mead nicht Beweis der menschlichen Sehnsucht nach anderen Lebensmodellen?
Die Versuche von Frankreichs Regierung, Anglizismen juristisch aus dem Sprachgebrauch
zu verdrängen, riefen zu Recht einiges Kopfschütteln und Schmunzeln
hervor. Aber dahinter steht neben krudem Nationalismus, billigem Populismus
und Traditionshuberei ein tiefes Unbehagen über den Verlust der eigenen
Identität angesichts einer amerikanisch geprägten Kultur.
Der Markt akzeptiert keine Grenzen, er unterminiert und läßt
schließlich jede Gemeinschaft zerbersten, die sich seinen Gesetzen
nicht beugt. Das ist die tödliche Wahrheit des Euphemismus von der
"Weltinnenpolitik".
Der österreichische Naturforscher Irenäus Eibl-Eibesfeldt hat
auf Tausenden von Filmkilometern fremde Kulturen und das Verhalten fremder
Völker dokumentiert. In vielen Fällen ist heute das Celluloid
der einzige Ort, an dem Riten und Rituale anderer Menschen erhalten geblieben
sind. Werden kulturelle Werte zerstört, nimmt die "adaptive Breite"
der Menschheit ab: Denn jede Kultur ist ein Experiment der Anpassung, in
dem Menschen verschiedene Formen des Zusammenlebens und des Überlebens
ausprobieren. Auch die Kultur unterliegt dem Entropiegesetz. Wenn wir andere
Kulturen vernichten, nehmen wir uns irreversibel die Chance, von ihnen zu
lernen. Viele in unseren Augen "primitive" Völker aber haben
Formen des Miteinander entwickelt, die unseren überlegen sind. Es gibt
zahlreiche Anzeichen dafür, daß wir mit unserer Evolution in
einer Sackgasse gelandet sind. Um so wichtiger wäre es, zu studieren,
welche Entwicklungsrichtung andere Völker eingeschlagen haben. Die
Monokultur des technischen Fortschritts und sein Überlegenheitsanspruch
aber sind so mächtig, daß sie nichts neben sich dulden. Sie zerstören
den gesamten Erfahrungsschatz ihnen fremder Zivilisationen. Götterglaube
ist ihnen zuwider und Dämonen denunzieren sie als Aberglauben.
Um das Wertesystem unserer Wirtschaft durchzusetzen, "müssen alle
anderen Formen des sozialen Lebens verächtlich gemacht werden",
schreibt der mexikanische Entwicklungstheoretiker Gustavo Esteva. Die Unwertbildung
verwandele Fähigkeiten in Mängel, Gemeingut in Ressourcen, Männer
und Frauen in die Ware Arbeitskraft. Aus der Tradition werde eine Last,
aus Weisheit Unwissenheit und aus Autonomie Abhängigkeit. "Die
selbständigen Aktivitäten der Menschen, in denen ihre Wünsche,
Fähigkeiten und Hoffnungen zum Ausdruck kommen, die ihren Umgang miteinander
und mit der natürlichen Umwelt bestimmen, werden umgeformt zu Bedürfnissen,
deren Befriedigung ohne die Vermittlung des Marktes nicht möglich ist."
Klingt die brillante Analyse des Gustavo Esteva, der es sich zur Aufgabe
gemacht hat, den Einfluß der Ökonomie zurückzudrängen,
nicht wie eine desillusionierte Variante des Hohelieds auf die welthistorische
Rolle der Bourgeoisie, das Karl Marx und Friedrich Engels im "Manifest
der Kommunistischen Partei" singen?
Eibl-Eibesfeldt berichtet über verschiedene Versuche der Zivilisierung
von Naturvölkern. Ein prototypisches Beispiel sei hier referiert. 1957
wurde in der australischen Gibsonwüste ein Volk entdeckt, dem es bis
dahin gelungen war, den Kontakt zu Weißen zu meiden: die Pintubi.
Die ersten Kontakte verliefen freundlich. Die Pintubi erhielten Geschenke
und verloren allmählich ihre Furcht. Als Pressemeldungen die Sensation
verbreiteten, wuchs in Australiens Menschenfreunden die Überzeugung,
daß es nicht gut sein könne, daß da arme Menschen nackt
in der Wüste herumliefen und Eidechsen aßen. Den Leuten mußte
geholfen werden. Also gab man den Pintubi noch mehr Geschenke, bis sie soviel
Vertrauen zu ihren neuen Gönnern gefaßt hatten, daß sie
deren Vorschlag folgten, die unwirtliche Wüste zu verlassen. Die Pintubi
wurden mit Zucker und Tee an Orte gelockt, wo schon andere australische
Ureinwohner lebten. Die Behörden bauten ihnen Duschen und Latrinen,
Wellblechhäuschen dienten als Unterkünfte. Die Pintubi haben jetzt
Kleider, die Alten erhalten sogar Pensionen, und mancher Junger hat einen
Job gefunden, in dem er Geld verdienen kann. Mit dem Jagen und Sammeln ist
es vorbei, statt dessen kaufen die Pintubi nun Konserven in Läden.
Eibl-Eibesfeldt hat 1972 drei Wochen bei den zivilisierten Pintubi verbracht
und ihr Leben studiert. Er berichtet vom Ergebnis der zivilisatorischen
Anstrengungen: Die Kindersterblichkeit ist trotz aller Hygienemaßnahmen
gestiegen. "Ich studierte entwurzelte Menschen, von Langeweile geplagt,
weil sie nicht mehr jagen und sammeln konnten. Auch belastete sie die Tatsache,
daß sie von ihrer Stammessitte vorgeschriebene Rituale nicht befolgen
konnten, weil die heiligen Stätten viel zu weit entfernt waren. Sie
spielten Karten und schoben Dollar-Scheine von Hand zu Hand. Sie hatten
ihre Selbständigkeit eingebüßt, ihre Heimat verloren und
waren Abhängige der Wohlfahrt geworden. Sie hatten den ersten Schritt
getan, der sie letztlich in die Slums der großen Städte führen
wird."
Da unser Entwicklungsweg der einzig denkbare ist, will auch der Süden
das erreichen, was wir als Maßstab der Maßstäbe gesetzt
haben. China, Brasilien, Indien, Indonesien und andere bevölkerungsreiche
Staaten fahren schon auf der Entwicklungsautobahn. Sie erkaufen ihr Wirtschaftswachstum
durch Massenelend. Überall, wo die kapitalistische Produktionsweise
einen Nährboden findet, spaltet sie die Gesellschaft in wenige Reiche
und viele Arme. Die Klassengegensätze, die im Norden bei ohnehin schon
günstigeren Ausgangsbedingungen erst in mehr als einem Jahrhundert
sozialer Kämpfe gemildert werden konnten, werden im Süden ungedämpft
ausgetragen. Die Gleichsetzung von Entwicklung und Wachstum heißt
bei diesem Vorzeichen massenhafte Verelendung.
Die Beseitigung der "Unterentwicklung" degradiert Millionen von
Menschen zu Almosenempfängern unserer rührigen Hilfsorganisationen.
Diese weltweite Zerstörung aufzuhalten wäre die bedeutendste Entwicklungshilfe,
die wir leisten könnten. Zu fordern ist nicht mehr Geld, sondern ein
grundlegendes Umdenken, der Abschied von der Wahnvorstellung, Wachstum und
Entwicklung zu exportieren. Aber wie sollen Menschen umdenken, denen seit
fünf Jahrzehnten eingetrichtert und vorgeführt worden ist, daß
sie unterentwickelt sind?
Unterentwicklung gibt es seit dem 20. Januar 1949, als der damalige Präsident
der USA, Harry S. Truman, in einer Rede Erdteile entdeckte, die nicht das
gleiche Wohlstandsniveau aufwiesen wie die Vereinigten Staaten von Amerika.
Truman griff dabei zurück auf Überlegungen amerikanischer Experten,
die schon zu Beginn der vierziger Jahre von "unterentwickelten"
und synonym von "wirtschaftlich rückständigen" Gebieten
gesprochen hatten. Aber erst als Truman den Begriff benutzte, entfaltete
er eine "ungeahnte kolonisatorische Wirkung", wie Gustavo Esteva
schreibt.
Seitdem wird geholfen - oder: der "Übergang vom nehmenden zum
gebenden Kolonialismus vollzogen" . Hilfe, das ist jetzt nicht mehr
die Unterstützung für den Mitmenschen in der Nachbarschaft oder
den Bettler an der Haustür. Hilfe wird nun von Profis organisiert,
nachdem der Großteil der Welt in einem einseitigen Akt für hilfsbedürftig
erklärt worden ist. Wer hilft, ist überlegen. Und es liegt nahe,
daß er nur jenem hilft, der "kooperationswillig" ist. Hilfe
ist selbst dann, wenn sie Not nicht brutal ausnutzt, ein Mittel der Disziplinierung.
Meist unaufdringlich durchsetzt sie die Gesellschaften, sind politische
Paradigmen und ideologische Versatzstücke unsichtbar, aber wirkungsvoll
an die Getreidesäcke geklebt. Diese Hilfe macht den Rest der Welt zu
Fürsorgeempfängern. Was könnte die eigene Überlegenheit
deutlicher demonstrieren als die Hilflosigkeit anderer, die sich sogar dankbar
zeigen?
Diese Hilfe, Entwicklungshilfe, in welcher Form auch immer, leistet noch
weit mehr. Sie schafft sich nämlich den Grund ihrer Existenz selbst,
so wie erst die Entwicklungspolitik Unterentwicklung verursacht hat. Entwicklungshilfe
ist ein ökonomisches und soziales Perpetuum mobile besonderer Güte:
Sie treibt sich nicht nur selbst an, sondern produziert auch noch weitere
Gründe ihrer Existenz.
Der Marshall-Plan, der das durch Hitlerdeutschlands Krieg zerstörte
Europa wieder aufbauen helfen sollte, war der Prototyp der Entwicklungshilfe.
Das European Recovery Program enthielt im Kern schon alle Ingredienzen des
globalen Entwicklungsprojekts. Es gliederte einen halben Kontinent wieder
ein in den Weltmarkt und gab der amerikanischen Nachkriegskonjunktur ein
neuen Schub, es erzeugte durch Hilfe Dankbarkeit und machte aus Feinden
Verbündete, die sich willig dem neuen Vorbild unterwarfen. Nicht zuletzt
aus diesem Hilfsprogramm speiste sich Washingtons Führungsanspruch
gegenüber Europa.
Die Entwicklungspolitik hat sich seit Trumans Rede alle Maßstäbe
unterworfen. Sie hat verbindliche Bedürfnisse bestimmt, die allein
an wirtschaftlichen Werten ausgerichtet sind. Sie hat die Vorstellung gesprengt,
daß unser Handeln Beschränkungen unterliegt. Und jetzt steht
sie da vor den Geistern, die sie rief und staunt, daß die ganze Welt
das fordert, was sie verheißen hat. Kaum ein Projekt auf diesem Erdball
hat erfolgreicher die Köpfe erobert als die Entwicklungspolitik. Als
Harry S. Truman den Rest der Welt aufforderte, dem Vorbild der USA zu folgen,
zeichnete er den Generalstabsplan des erfolgreichsten ideologischen Feldzugs
der Geschichte, der mehr umgewälzt hat als sämtliche Revolutionen,
Kriege und Kreuzzüge zuvor. Und der es inzwischen nicht nur geschafft
hat, sich in das Pathos der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit zu kleiden,
sondern sich vom Verdacht des Ideologischen befreien konnte, weil nach dem
Untergang des realsozialistischen Konkurrenzmodells das Fehlen ideologischer
Differenzen das Fehlen von Ideologie vorgaukelt. Nein, wir befinden uns
mitten im größten ideologischen wirtschaftlichen Experiment der
Historie. Wir ahnen zwar, daß die "Titanic" den Eisberg
rammt, aber das macht ja die Überlebensstärke ideologischer Axiome
aus, daß die Wirklichkeit sie zu spät einholt.
Unseren heutigen Begriff von Entwicklung haben Marxismus und Kapitalismus
gemeinsam gezeugt. Sah Marx im fortgeschrittensten Land das Vorbild, dem
alle anderen Nationen gesetzmäßig folgen mußten, so verwandelten
die Theoretiker und Praktiker der Marktwirtschaft diese vermeintliche Einsicht
in den Lauf der Geschichte in einen Anspruch, den es politisch umzusetzen
gilt. In beiden Gedankengebäuden ist der Drang zu Vereinheitlichung
zwingend vorgegeben. Ihr gemeinsames Kind, die Entwicklungspolitik, fordert
Gleichheit und hat doch das Gegenteil erzeugt; die Kluft zwischen arm und
reich wird immer tiefer. Beide verlangen, gesellschaftliche Verhältnisse,
die dem gesetzten Vorbild nicht entsprechen, aufzulösen, und haben
für die Opfer Fortschritt und Elend zu Synonymen werden lassen. Beide
messen mit Maßstäben, die nur der eigenen Welt entstammen.
Klassischer Ausdruck ist das Bruttosozialprodukt. Aber es eignet sich ebensowenig
wie andere Kriterien als Meßlatte, wie die Fakten zeigen: In manchen
Entwicklungsländern etwa sind bis zu zwei Dritteln der Menschen in
der "Überlebensökonomie" beschäftigt, deren Aktivität
den "offiziellen" Markt nicht berührt. Zudem sind Regierungen
in der Dritten Welt daran interessiert, ein möglichst niedriges Pro-Kopf-Einkommen
auszuweisen, weil dies ihre Kreditbedingungen verbessert. So wichen die
Angaben der Weltbank und des US-Geheimdienstes CIA über das Durchschnittseinkommen
in der Volksrepublik China einmal um glatt hundert Prozent voneinander ab.
Angesichts dessen verwundert es nicht, daß auch internationale Organisationen
häufig unterschiedliche Zahlen nennen. Angaben über Durchschnittseinkommen
sagen wenig bis nichts aus über die Kaufkraft der Währungen. Umrechnungen
aus nationalen Währung in den internationalen Vergleichsmaßstab
US-Dollar verzerren die soziale Realität. Das Pro-Kopf-Einkommen vernachlässigt
die Unterschiede zwischen Stadt und Land, Männer und Frauen, Reich
und Arm. Himmelschreiendes Elend wird auf diese Weise ebenso statistisch
glattgebügelt wie obszöner Wohlstand.
Die Eliten vieler Dritte-Welt-Staaten, zumeist fixiert auf den reichen Norden,
profitieren fast allein von der wachstumsorientierten Entwicklungshilfe.
Die oberen vierzig Prozent Brasiliens etwa verfügen über achtzig
Prozent des Nationaleinkommens, und sie werden auch von allen Zuwächsen
vier Fünftel in die eigenen Taschen fließen lassen, solange sich
die politischen und sozialen Strukturen nicht ändern. Die Entwicklungshilfe
hat sich nicht die Aufgabe gestellt, jene parasitären herrschenden
Gruppen zurückzudrängen, die ihre Länder gnadenlos den eigenen
Interessen opfern und Milliarden bei ausländischen Banken gebunkert
haben. Da Wachstum sich an den sozialen Gegebenheiten ausrichtet, dient
es vor allem den Reichen und Mächtigen. Zutreffend sprechen Kritiker
der Entwicklungspolitik von "Verelendungswachstum" .
Mexiko wurde in den siebziger Jahren für "entwickelt" erklärt,
da das Pro-Kopf-Einkommen die magische Grenze von umgerechnet 600 US-Dollar
überschritten hatte und das Land nach internationalen Maßstäben
damit der Unterentwicklung entronnen war. Gleichzeitig aber hatte sich die
Ernährungslage der ländlichen Bevölkerungsmehrheit ebenso
verschlechtert, wie die Realeinkommen gesunken waren.
Einkommensstatistiken ignorieren kulturellen Reichtum. Man denke hier nur
an die Lebensweise sogenannter Naturvölker, die Marktpreise und Geldeinkommen
nicht oder kaum kennen - sie haben nach unseren Kriterien keine Lebensberechtigung.
Überhaupt zählen Menschen in der Welt des Bruttosozialprodukts
nur als Kostenfaktoren, Konsumenten oder "Humankapital".
Es grenzt an politische Idiotie, angesichts der beängstigenden Ergebnisse
des Wachstumswahns Euphorie zu verbreiten wegen der neuen Chancen des Zukunftsmarkts
Umweltindustrie. Sie ist gewissermaßen das, was der vielgelobte Katalysator
für die Autos darstellt , nämlich eine mehr oder minder wirksame
Art Filter, die am Konstruktionsprinzip nichts ändert. Und schon gar
nicht die Erhaltungsgesetze der Physik außer Kraft setzen kann, denen
zufolge Materie und Energie zwar nicht vernichtet werden können, aber
von einem brauchbaren Zustand in einen unbrauchbaren verwandelt werden.
Wer einen Eimer heißes Wasser ins Meer kippt, wird es nicht mehr zurückholen
können, aber verschwunden ist es nicht.
Die Erde ist ein geschlossenes System, sieht man einmal von der Sonneneinstrahlung
ab. Gemäß dem ersten Gesetz der Thermodynamik gehen im Produktionsprozeß,
in dem Materie und Energie umgewandelt werden, Materie und Energie nicht
verloren. Das zweite Gesetz der Thermodynamik erklärt jedoch, daß
bei dieser Umwandlung der Anteil nicht mehr nutzbare Energie und Materie
fortlaufend zunimmt, oder, auf fachchinesisch, die Entropie wächst,
und in gleichem Maß schrumpft der Vorrat an niedriger Entropie. Entropie
nennen die Physiker das Maß der nichtverfügbaren Energie in einem
geschlossenen System.
Der Bau eines Autos oder einer Waschmaschine verringert demnach die Möglichkeiten
künftiger Bedürfnisbefriedigung. Wird die Produktion ausgeweitet,
wächst die Entropie also, gerät die Natur über kurz oder
lang an die Grenze ihrer Belastbarkeit. Entropie steht demnach nicht einfach
für Abfallproduktion, sondern sie ist in den Worten des Schweizer Publizisten
Jean Robert der "zwangsläufige Ausdruck eines zerstörerischen
Prinzips, von dem die Produktion lebt und das zugleich ihr Ende bedeutet".
Naturwissenschaftlich betrachtet, ist Produktion nichts anderes als Steigerung
der Entropie und damit Raubbau an der Natur. Entropie bedeutet stets Verknappung.
Die Verschwendung in unserer heutigen Wachstumsgesellschaft kostet Menschenleben,
weil jeder Energie- und Materieverbrauch unwiderruflich ist. Da gibt es
nichts, was wiedergutzumachen wäre. Insofern bedeutet jede Verzögerung
bei der Umgestaltung der Weltwirtschaftsordnung am Ende der entropischen
Ursache-Wirkungs-Kette Millionenhunger und Millionentod.
Die Umweltindustrie ändert am Energiedurchsatz der Wirtschaft nichts,
sie mindert lediglich die Giftigkeit der Stoffe, die aus dem großen
Auspuff kommen. Und auch sie ist ein großer Umwandler von Materie
und Energie. Dabei ist zu berücksichtigen, daß die Vielfalt der
Zahl und Wirkungsweisen von umweltschädigenden Stoffen des Produktionsprozesses
den Maßstab unserer Katalysatorbeispiels sprengt.
Die herrschende Volkswirtschaftslehre ist nicht weniger als die Wirtschaftspolitiker
und die Wähler auf grenzenloses Wachstum eingeschworen. Wer glaubt,
sie verstünde es als ihre Aufgabe, vor den Katastrophen der steten
Steigerung zu warnen, irrt sich grundlegend. Sie ist blind für die
Bedrohung, die sie selbst mit heraufbeschwört. Sie kennt keine Warnlampen
und keine Kontrolle der Wirtschaft nach sozialen und ökologischen Maßstäben.
Wir haben es zu tun mit einem Wirtschaftssystem der "institutionalisierten
Verantwortungslosigkeit" . Betrachtet man die deutsche Wirtschaft als
ein riesiges Unternehmen, so ergäbe eine kostengerechte Leistungsbilanz,
daß die Abschreibungen schneller wachsen als die Bruttoinvestitionen.
Man brauchte also nur zu warten, bis der Aufwand für die Beseitigung
von Schäden und die Ersatzinvestitionen verhindern, daß sich
neues Kapital bildet, ja den Kapitalstock sogar aufzehren. Nun ist die Bundesrepublik
kein Unternehmen. An der Wirklichkeit und den Grenzen, die sich wirtschaftlicher
Tätigkeit setzen, ändert dies aber nichts.
Wohl jeder Volkswirtschaftsprofessor und jeder ernstzunehmende Wirtschaftspolitiker
dürfte über genügend Kenntnisse verfügen, um das Zerstörungswachstum
unserer Wirtschaft zu begreifen. Die Fakten liegen offen auf dem Tisch.
Und doch verhält sich die wirtschaftspolitische Elite unseres Landes
so, als wären da schlimmstenfalls einige technische Probleme zu lösen.
Ein Umweltminister springt demonstrativ in den Rhein, und die seriösen
Gazetten kennen in ihrem Wirtschaftsteil nichts als das Starren auf die
nackten Kennziffern des Bruttosozialprodukts. Dessen Steigerung und Schrumpfung
ist auch der "Tagesschau" immer eine Spitzenmeldung wert.
Das ist genauso unbegreiflich wie die politische Untätigkeit angesichts
einer galoppierenden Staatsverschuldung. Ende 1993 betrug das Minus im Bundeshaushalt
offiziell rund 685 Milliarden Mark. Zählt man die "Schattenhaushalte"
- zum Teil "Sondervermögen" genannt! - hinzu, dann ist die
Billionen-Mark-Grenze längst überschritten. Aber weniger diese
ohnehin unvorstellbare Zahl, als vielmehr die ununterbrochen steigende Neuverschuldung
ist bedrohlich. Hier gehen Politik und Wirtschaft Hand in Hand: Der Anteil
der Erhaltungsinvestitionen steigt unaufhörlich, und wer angesichts
der dadurch verursachten trüben Aussichten weiter auf Wachstum setzen,
gerät tiefer in den Schuldenstrudel. Der Staat verschuldet sich bei
Banken und Bürgern. 1993 war jeder der achtzig Millionen Deutschen
nach Angaben des Statistischen Jahrbuches mit 8441 Mark pro Kopf verschuldet,
wobei die Defizite von Post, Bahn, Treuhand usw. gar nicht berücksichtigt
sind. Die Schulden fressen die Gestaltungsmöglichkeiten weg.
Die Volkswirtschaft leidet unter einem ähnlichen Defizit. Nur macht
sie ihre Schulden bei der Natur und zu Lasten der sozialen Sicherheit der
Bevölkerungsmehrheit. Die einzige Einnahmequelle der Erde ist die Sonnenstrahlung.
Jedes Wirtschaftswachstum, das mehr Energie verbraucht, als es von der Sonne
erhält, verstrickt die Wirtschaft in Schulden bei der Natur, und dies
bei einem "völlig herzlosen und unnachgiebigen Gläubiger",
wie Konrad Lorenz schreibt.
Unbegrenztes Wachstum im endlichen Raum ist nicht möglich, auch wenn
diese Einsicht sich erst mit einiger zeitlicher Verzögerung einstellt,
was unseren Wunderglauben an die Technik weiter fördert. Wir begreifen
Ursachen-Wirkungs-Ketten nur dann, wenn die Wirkung der Ursache direkt folgt.
Ist der Zusammenhang komplex, wirken verschiedene Ursachen synergetisch,
verwandeln sich Wirkungen in Ursachen und verbinden sich mit anderen Wirkungen
zu einem Geflecht, dann versagt der menschliche Verstand - sogar wenn Wissenschaftler
das Gefüge wenigstens annähernd entschlüsseln.
Da wir hoffen, sofern wir die drohenden Gefahren überhaupt wahrnehmen,
vom gewaltsamen Zurückschlagen der Natur nicht mehr als den Anfang
zu erleben, ist dieser Umstand bei allem Sonntagsgerede nicht ernsthaft
beunruhigend. Unsere Enkel sind Abstrakta, sie sind nicht wirklich. Der
nächste Wahlkampf und die nächste Hauptversammlung der Aktionäre
sind dies um so mehr. Das ist einzelnen Politikern und Managern nicht vorzuwerfen,
handelten sie anders, würden sie beschimpft und verjagt. Realität
ist allein die Gegenwart, und der schwerlich abzutragende finanzielle, entwicklungspolitische
und ökologische Schuldenberg, den wir künftigen Generationen überlassen,
bedrückt uns bestenfalls gelegentlich. Die Gegenwart brüllt, die
Zukunft flüstert.
So werden die Versuche, unsere Maßstäbe zu ändern, letztlich
scheitern. Dabei gibt es interessante Ideen, welche Kriterien solche realitätsverzerrenden
statistischen Schablonen wie das Bruttosozialprodukt ablösen könnten,
um ein einigermaßen wirklichkeitsgetreues Bild der Wirtschaftslage
zu zeichnen.
Schon 1970 hat der damalige Weltbankpräsident Robert McNamara verlangt,
das Bruttosozialprodukt zu ersetzen durch eine andere Rechnung, da offenkundig
war, daß Wachstum günstigstenfalls nichts zur Entwicklung der
armen Länder beigetragen hatte. Aber die Initiative verlief im Sand,
weil sich die Experten auf keine Größe einigen konnten. Aus der
Tatsache, daß sich bis heute nichts geändert an der volkswirtschaftlichen
Gesamtrechnung, zeigt sich die Urgewalt der Wachstumsideologie, deren Wirkung
nicht einmal die offenkundige Falschheit ihrer Maßstäbe berühren
kann.
Trotzdem versuchen seit einigen Jahren reformwillige Ökonomen einen
"Index für sozialen und umweltverträglichen Wohlstand"
(ISUW ) zu schaffen, um der wirtschaftlichen Wirklichkeit wenigstens nahe
zu kommen. Der Ausgangspunkt der Rechnung ist hier der private Verbrauch.
Die Aussagekraft dieser summarischen Kennziffer wird allerdings begrenzt
durch fünf Faktoren. Faktor Nummer eins relativiert Wirtschaftswachstum
durch die Einkommensverteilung. Je ungerechter die Einkommen verteilt sind,
desto weniger trägt Wachstum zum gesellschaftlichen Wohlstand bei.
Oft genug sind Wachstum und Verelendung zwei Seiten derselben Medaille.
Zum so korrigierten privaten Verbrauch werden Tätigkeiten gerechnet,
die das Bruttosozialprodukt nicht oder nicht ausreichend bewertet. Drittens
wird die Zeitspanne berücksichtigt, die zwischen Ausgaben und Nutzen
bestehen kann: Ausgaben für langlebige Konsumgüter werden vom
privaten Verbrauch abgezogen, der jährliche Nutzen dieser Konsumgüter
aber dazugezählt. Als Beispiele mögen hier langfristige Investititionen
in Bildung und Straßenbau dienen. Der so gewonnene Betrag wird vermindert
um Faktoren, die wohlfahrtsverringernd wirken: Werbung, Kosten für
Fahrten zur Arbeit und Verkehrsunfälle, erhöhte Lebenserhaltungskosten
in Ballungsgebieten, private Ausgaben im Gesundheitswesen (sofern sie dazu
dienen, die Gesundheit wiederherzustellen), Schäden durch Umweltzerstörung
sowie einen Wertansatz für die Nutzung nicht erneuerbarer Rohstoffe
und für langfristige beziehungsweise irreparable Umweltschäden.
Schließlich, fünftens, werden Investitionen von Ausländern
im Inland abgezogen und Investitionen von Inländern im Ausland dazugerechnet.
Auch der ISUW-Wert widerspiegelt die Wirklichkeit nicht vollkommen, aber
er ist um ein Vielfaches präziser als alle BSP-Ziffern es jemals sein
können. Vor allem zeigt er im Gegensatz zum Bruttosozialprodukt die
Kosten des Wachstums. Das sich auf diese Weise ergebende Bild ist erschreckend.
So wurde als ISUW pro Kopf für die Vereinigten Staaten für das
Jahr 1955 ein Wert von 2255 Dollar berechnet. 1985 war dieser Betrag auf
1884 Dollar gesunken, pro Jahr um etwa ein halbes Prozent. Der Niedergang
des Pro-Kopf-Indexes hat sich beschleunigt. In den siebziger Jahren sank
der Index für sozialen und umweltverträglichen Wohlstand pro Jahr
durchschnittlich um 1,57 Prozent, seit 1980 sind es sogar 4,26 Prozent jährlich.
Diese katastrophale Entwicklung in den USA beruhte in erster Linie auf der
Ungleichheit der Einkommensverteilung, der Erschöpfung natürlicher
Ressourcen und einem geringen Investitionsvolumen.
Für Deutschland zeigen ähnliche Berechnungen, daß sich seit
1980 die Kluft zwischen den BSP- und den ISUW-Werten beträchtlich vertieft
hat. Wird für das BSP und den ISUW im Jahr 1950 der Wert 1 gesetzt,
dann erhält man für das Bruttosozialprodukt 1986 eine Steigerung
um den Faktor 4,82, für den ISUW aber nur um 3,09. Es ist keine Überraschung,
daß diese Daten passen zum überproportionalen Wachstum der "defensiven
Kosten", auf die Christian Leipert uns aufmerksam gemacht hat.
Wann kippt die Entwicklung um? Wann sind Schuldentilgung und Zinsen höher
als die Einnahmen? Schon längst nicht mehr zu erzielen sind die Wachstumsraten,
die notwendig wären, um den gegebenen Wohlstand zu erhalten.
In den Gesellschaften des Nordens wächst viel, aber viele werden ärmer.
Sie werden ärmer durch Wachstum. Das ist offenkundig auch für
jene, die die Berechnungen kluger Ökonomen nicht kennen. Die amtliche
Statistik bietet genügend Zahlen, um den sozialen Niedergang im reichen
Deutschland und allen anderen Staaten des industrialisierten Nordens zu
dokumentieren. Die Politik wie die Wähler aber bleiben eingezwängt
in die Zwangsjacke des Wachstumswahns. Als undenkbar erscheint ihnen die
Notwendigkeit, Konzepte zu entwerfen, die nicht abhängig sind von Wachstum.
Selbst die Verheerungen, die durch Wachstum hervorgerufen worden sind, wollen
sie durch Wachstum heilen.
Das ist, nach allen vernünftigen Maßstäben, verrückt.
Genauer gesagt, handelt es sich um ein perfektes Zusammenwirken der biologischen,
ideologischen und sozialen Konstanten, die den heutigen Menschen prägen.
Die Mehrung des Besitzes, die Vergrößerung und Sicherung des
Territoriums - diese und andere selektierte menschliche Eigenschaften mitsamt
ihrem psychischen Widerschein garantierten das Überleben unserer Art.
Aber sie sind zu selbstmörderischen Antrieben geworden, seit die Mittel,
sie zu befriedigen, sich vermillionenfacht haben.
Grenzen hat die Natur nicht eingebaut. Das mußte sie auch nicht, denn
solche Steigerungsraten waren vor kurzem noch unvorstellbar. Inzwischen
hat die ökonomische Entwicklung die biologische Evolution längst
überholt. Für das Naturprodukt Gehirn ist Wachstum ein linearer,
arithmetischer Prozeß, die modernen Produktivkräfte aber bewirken,
daß auch die Ausgangsgrößen des Wachstums wachsen: exponentielles
Wachstum ist schwer zu begreifen, aber gefährlich real.
"Bruttosozialprodukt": das ist der vollkommene begriffliche Ausdruck
der Wachstumsfixierung, den die Natur unserer Art angezüchtet hat.
Marktwirtschaft ist die ökonomische Vollendung unserer Stammesgeschichte.
Auch wenn einem die Politik manchmal vorkommt wie die Fortsetzung des Stammtischs
mit anderen Mitteln, so ist es kein Mangel an Bildung, der uns daran hindert,
das Ruder herumzuwerfen. Es ist statt dessen die Unfähigkeit, die eigene
Natur zu überwinden.
Verdrängung kann hilfreich sein, um einem Überdruck psychischer
Belastungen zu entweichen. Ohne ein gewisses Maß an Verdrängung
würde der globale Elendsballast den Menschen ertrinken lassen. Fernes
Leid berührt uns weniger als nahe Not, aber sie gehört zu unserer
Wirklichkeit, auch wenn sie nur an deren Peripherie angesiedelt ist. Die
Zukunft dagegen ist abstrakt, einzig die Gegenwart existiert, jener Übergang
zwischen gestern und morgen, den wir nie werden greifen können. Die
Zukunft zu sichern, lautet das Kredo jeder vollständigen Sonntagsrede
zur Umweltpolitik. In Wahrheit ist die Zukunft uns fern, am weitesten weg
aber ist die Zukunft der anderen.
Soziales Elend und Umweltzerstörung auf unserem Globus könnten
nur dann eingedämmt werden, wenn die Welt abrückte von der Wahnstatistik
des Wachstums als Leitkriterium menschlicher Entwicklung. Das wäre
Ausdruck menschlicher Lernfähigkeit im Gegensatz zu allen ideologischen
Verrenkungen der nationalen und internationalen Politik, die sich auf Umwelt-
und anderen Gipfeln an Ökokosmetik berauscht.
Aber selbst eine geistige Revolution, eine rasche Änderung der zentralen
politischen und ökonomischen Paradigmen, wäre erst ein Anfang,
denn die Anerkennung der Schäden des Wachstums ist nicht gleichbedeutend
mit dem Abschied vom Wachstumskurs. Es ist zu bezweifeln, daß wir
diese Herausforderung bestehen werden. Und wenn doch eines Tages? Dann ist
es wahrscheinlich zu spät, weil die Vergiftungen und Verwüstungen,
Hunger und Elend ein irreparables Ausmaß erreicht haben. Man muß
einen Tanker rechtzeitig bremsen. Wie später darzustellen sein wird,
ist es fraglich, ob die Havarie zu vermeiden wäre, wenn wir die Schiffsdiesel
heute herunterfahren würden. Der Eisberg ist schon nah. Katastrophengeschrei,
Panikmache? Kassandra hatte recht, und viele Trojaner haben ihr nicht geglaubt.
Dabei ist die Sachlage einfach: Eine weitere Steigerung der Produktivität
kostet Energie und Rohstoffe und bringt zusätzliche Abfälle, Abgase
und Abwässer hervor. Die Erde ist endlich, und endlich sind auch ihre
Ressourcen wie ihre Fähigkeit, die Last des Wachstums zu tragen. Dem
Kasseler Philosophen Christoph Türcke verdanken wir die Klarstellung,
daß dieselben ökonomischen Gesetze, die uns das dreizehnte Monatsgeld
spendieren, in fernen Ländern beginnen, ganz neue Menschen zu züchten,
einen Typus, der tatsächlich so minderbemittelt ist, wie die übelsten
Rassisten ihre Gegner gerne sehen, und das alles ohne Gentechnik und Rassismus.
Er meint damit jene Zwerge, die in den Bergen des Wohlstandsmülls ums
Überleben kämpfen, die nie satt werden und nie die Chance hatten,
die in ihnen angelegten Talente und Körperkräfte zu entwickeln.
In der Tat, das ist die Zuchtwahl der Wachstumsgesellschaft.
Damit es klar ist: Hunger und Armut lassen sich durch Wachstum nicht bekämpfen,
und schon gar nicht, indem man darauf wartet. Aber wir müssen nicht
Zwerge im Müll suchen, die verdrängte Katastrophe, in der wir
leben, ist leicht erkennbar. 1986 erregte eine Schadensschätzung des
Wissenschaftlichen Direktors im Umweltbundesamt, Lutz Wicke, Aufsehen: Mit
hundert Milliarden Mark pro Jahr seien, zurückhaltend gerechnet, die
ökologischen Verluste allein in Westdeutschland zu veranschlagen.
Aber diese und andere Schäden sind gering, vergleicht man sie mit den
Wirkungen des Wachstumswahns in großen Teilen der Dritten Welt. Bekämpfung
des Hungers durch Steigerung der Nahrungsmittelproduktion etwa ist das Patentrezept
marktwirtschaftlicher Entwicklungshilfe. Die beiden amerikanischen Entwicklungsexperten
Joseph Collins und Frances Moore Lappé haben diese Legende schon
vor einem Jahrzehnt entlarvt in ihrer bahnbrechenden Studie über den
"Mythos des Hungers", deren beeindruckende Ergebnisse bis heute
ignoriert werden in Politik und Wirtschaft. Collins und Lappé haben
für privatwirtschaftlich verfaßte Agrarwirtschaften in den Ländern
des Südens die verheerenden Konsequenzen des Wachstums der Nahrungsmittelproduktion
untersucht. Ihre Ergebnisse seien hier kurz zusammenfassend referiert. Obwohl
die Nahrungsmittelproduktion pro Kopf zunimmt, verschlechtern sich die Lebensbedingungen
der Bevölkerungsmehrheit. Die Bodenpreise und die Pachtzinsen steigen
mit wachsenden Erträgen, wodurch Pächter und Kleinbauern von ihrem
Land verdrängt werden. Die Geldwirtschaft ersetzt fortschreitend den
Naturalienaustausch; Inflation und steigende Agrarpreise aber reduzieren
die so entstehende Kaufkraft. Landbesitz konzentriert sich in wenigen Händen,
zum Teil von Spekulanten, die vom steigenden Bodenwert angelockt werden.
Immer mehr Schulden drücken die kleinen Landbesitzer. Oft eignen sich
mächtige Einzelpersonen bislang gemeinsam bewirtschaftetes Land an.
Der Einfluß von Konzernen in der Agrarwirtschaft verstärkt sich.
Armut und soziale Ungleichheit verschärfen sich, weil immer mehr Menschen
aus der Landwirtschaft ausgestoßen werden. Die Gesamtmenge der Produktion
ist der Maßstab aller Dinge, nicht die Teilnahme der Landbevölkerung
daran. Qualität und Marktwert sind die Ziele der Agrarunternehmer.
Im Ergebnis steigender Nahrungsmittelproduktion hungern mehr Menschen.
Es wäre nun angesichts solcher erschütternder Resultate einfach,
zu fordern, die kapitalistische Produktionsweise zu ersetzen durch eine
dem Gemeinwohl verpflichtete Erzeugung von Nahrungsmitteln. Leider aber
gibt es dazu bislang keinen Weg. Das ist ein tödliches Dilemma. Wenn
Entwicklungshilfe ihren Namen verdiente, dann müßte sie weltweit
"runde Tische" ins Leben rufen, an dem die Menschen vor Ort demokratisch
entscheiden, wie sie ihre Produktion organisieren - ohne Einmischung korrupter
Dritte-Welt-Eliten und ohne Bevormundung durch die Geberländer. Man
wagt kaum, daran zu denken, daß etwa deutsche oder amerikanische Entwicklungshilfe
davon ablassen könnte, die eigene politische und ökonomische Ordnung
zum Maßstab aller Dinge zu verklären.
Die damaligen Mitarbeiter des renommierten Massachusetts Institute of Technology
Donella und Dennis Meadows haben vor mehr als zwei Jahrzehnten in einem
Bericht und einer Computer-Simulation für den Club of Rome auf die
damals sichtbaren Grenzen des Wachstums hingewiesen. In einem neuen Buch
haben sie ihre Thesen aktualisiert. Zur Entwicklung des weltweiten Energieverbrauchs
haben sie unter anderem die folgenden Daten ermittelt: In den 125 Jahren
von 1860 bis 1985 ist der Energiedurchsatz der Menschen um das Sechzigfache
gestiegen. Ein Europäer benötigt zehn- bis dreißigmal mehr
Energie als ein Mensch in der Dritten Welt, ein US-Bürger bringt es
gar auf das Vierzigfache. Bis zum Jahr 2020 wird der Energieverbrauch um
weitere 75 Prozent steigen, wenn das heutige Wachstum von Wirtschaft und
Bevölkerung anhält. Gegenwärtig wird der Energieverbrauch
zu 88 Prozent durch die fossilen Brennstoffe, Kohle, Öl und Erdgas
gedeckt. Zwischen 1970 und 1990 wurden 450 Milliarden Barrel Erdöl,
90 Milliarden Tonnen Kohle und 31 Billionen Kubikmeter Erdgas verbrannt.
Selbst Wachstumsfanatikern ist mittlerweile klargeworden, daß die
fossilen Ressourcen der Erde nicht endlos sind (auch wenn es müßig
ist, über die Vorratsmenge zu spekulieren). Sie setzen daher auf die
Atomenergie, nachdem der Beinahe-Unfall von Three Miles Island und die Tschernobyl-Katastrophe
im öffentlichen Bewußtsein allmählich abklingen. Das ist
ein weiteres Dilemma des Wachstumskurses, daß zurückgegriffen
wird auf eine Technik, die nie versagen darf und es nach allem menschlichen
Ermessen doch tut. Der nächste GAU kommt bestimmt. Dafür reichen
schon die heutigen Atomkraftwerke. Aber wer trotz aller sichtbar werdenden
Grenzen weiteres Wachstum will, muß sich mit dem Atomteufel verbünden.
Um jeden Preis.
Was kann das Ziel von Entwicklung in der Dritten Welt sein? Sollen die armen
Staaten dem Vorbild der reichen folgen? Dann wäre unsere Gattung bald
am Ende. Entwicklung als nachholende Modernisierung der "Nachzügler-Staaten
der Weltgeschichte" würde nicht nur unvorstellbare Geldmittel
verschlingen, sondern vor allem der Natur den Rest geben, so das klare Urteil
des Dritte-Welt-Experten Rainer Tetzlaff. Aber können wir anderen Menschen
verweigern, was wir ihnen vormachen? Wenn wir mit unseren Medien und unserer
Entwicklungshilfe unsere fragwürdigen Ideale in alle Welt transportieren,
dürfen wir uns nicht beklagen, daß das Streben nach höchstmöglichem
materiellen Wohlstand das Denken vieler Menschen im Süden prägt.
Auch das ist ein Dilemma des Wachstumswahns.
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