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"Möglichst
viel Aufdeckung und Aufklärung" forderte der SPD-Ehrenvorsitzende
Willy Brandt, als im März im Bundestag darüber debattiert wurde, eine Enquetekommission
zur Aufarbeitung der DDR-Geschichte unter Leitung des ehemaligen DDR-Bürgerrechtlers
und heutigen CDU-Abgeordneten Rainer Eppelmann einzusetzen.
Brandt distanzierte sich von "opportunistischem Verdecken oder voreiligem
Vergessen". Erörtert werden müsse auch die Frage, ob die Politik des
Westens dazu beigetragen habe, die Lebensdauer der kommunistischen Regime
im Osten zu verlängern: "Aber warum nicht offen darüber sprechen?"
Egon Bahr, langjähriger Präside, heute Direktor des Hamburger Instituts für
Friedensforschung und Sicherheitspolitik, hatte schon im Mai 1991 vor dem
Berliner Kautsky-Bernstein-Kreis erklärt: "Wir können und wollen nicht
vergessen und nicht verdrängen und nicht vor unserer Vergangenheit weglaufen,
nicht als Volk, nicht als Partei, nicht als Individuum."
Auch die Erfahrung, daß vom Leben bestraft werden könne, wer zu früh komme,
würde ihn nicht davon abhalten, "wieder zu tun, was schon damals richtig
und nötig war", sagte Bahr.
Unausgesprochen
wies er damit die Kritik zurück, die von der SPD-Führung betriebene Deutschlandpolitik
habe Honecker und seinen Politbürokraten geholfen - auch bei der Bekämpfung
der Opposition. Es sei notwendig gewesen, berechtigte Empörung öffentlich
zu unterdrücken, widerspricht Bahr, "um sie intern um so wirksamer zu
machen ... Ich bin also nicht für das Verdrängen der Vergangenheit oder für
eine aromatische Einheitssoße, sondern für intellektuelle wie mentale Klarheit,
Sauberkeit und Offenheit".
Wenn also auch im Rückblick alles richtig gewesen sein soll, was Sozialdemokraten
zwischen der Bonner Wende 1982 und der DDR-Wende 1989 mit der SED besprochen
und vereinbart haben, dann erstaunt die Angst der SPD-Prominenz vor den Akten.
Denn mit Vehemenz versucht sie zu verhindern, daß die Quellen im Zentralen
Parteiarchiv der PDS, die die SPD-SED-Kontakte dokumentieren (Bestand: SED-Zentralkomitee,
Büro Axen, ZPA IV 2/2.035/78-83), eingesehen werden. Es ist nicht weit her
mit Offenheit.
Nicht
einschlägig
Nur Ex-SPD-Präside
Erhard Eppler willigte ein, auf den 30 Jahre währenden Persönlichkeitsschutz
des Bundesarchivgesetzes zu verzichten und damit den Weg zu den Akten freizumachen.
SPD-Chef Björn Engholm und sein Vorgänger Hans-Jochen Vogel, Saarlands Ministerpräsident
Oskar Lafontaine und Egon Bahr verlangten, die Recherchen auf das SPD/SED-Positionspapier
von 1987 zu beschränken. Niedersachsens Regierungschef Gerhard Schröder wollte
einen Historiker der Friedrich-Ebert-Stiftung vorschalten und die Dokumente
vor Veröffentlichung examinieren. Ex-Bundesgeschäftsführerin Anke Fuchs und
Willy Brandt ließen über ihre Referenten den Wunsch ablehnen.
Der ehemalige Parteivordenker Peter Glotz erklärte sich für "nicht einschlägig".
Der außenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Karsten Voigt, zeigt sich ratlos.
Die Bitte an SPD-Bundesgeschäftsführer Karlheinz Blessing, wenigstens das
Archiv der Friedrich-Ebert-Stiftung nutzen zu dürfen, wurde aus "archivwissenschaftlichen
und juristischen Gründen" abgelehnt.
Offensichtlich meinen manche Sozialdemokraten nur die Vergangenheit der anderen
Parteien, wenn sie von Geschichtsaufarbeitung sprechen. Der Grund dafür: Sie
wissen, daß sie in Gesprächen mit ihren SED-Partnern viel zu weit gegangen
sind.
Die sozialdemokratische
Annäherung an die SED im November 1982 begann, nachdem die SPD durch das konstruktive
Mißtrauensvotum von CDU/CSU und der frisch gewendeten FDP in die Opposition
geschickt worden war. Willy Brandt hatte Erich Honecker vorgeschlagen, die
Beziehungen zwischen ihren Parteien auszubauen. Den Friedensnobelpreisträger
trieb die Sorge, die christlich-liberale Koalition könne verspielen, was die
Vorgängerregierung an deutschdeutscher Verständigung erreicht hatte.
Es stand zu befürchten, daß die Mittelstreckenraketen-Aufrüstung der Supermächte
eine neue Ost-West-Eiszeit heraufbeschwören würde. Im Zentralkomitee der SED
und im Erich-Ollenhauer-Haus, dem SPD-Hauptquartier in Bonn, wuchsen die Zweifel,
ob die Anhäufung des atomaren "Teufelszeugs" aus der Sowjetunion
und den USA auf deutschem Boden den Frieden tatsächlich sicherer mache. Grund
genug, miteinander zu sprechen.
Bis zum Sommer 1989 kam es zu weit mehr als hundert Begegnungen zwischen SPD-Vertretern
und SED-Spitzenfunktionären. Vielen Betonköpfen im Apparat der Einheitspartei,
die in ihrer kommunistischen Jugend die jetzigen Gesprächspartner noch als
"Sozialfaschisten" beschimpft hatten, war das zuviel.
Aggression
auf Filzlatschen
Sie argwöhnten
zu Recht, daß die sozialdemokratische Herausforderung nicht ohne Folgen bleiben
würde für die Politik ihrer Partei und ihre erstarrte Gesellschaft. Der altstalinistische
DDR-Außenminister Otto Winzer definierte Egon Bahrs Konzept des "Wandels
durch Annäherung" aus seiner Sicht einst zutreffend als "Aggression
auf Filzlatschen".
Aber was begonnen hatte, um Entspannung und Abrüstung voranzubringen und die
realsozialistische Diktatur aufzuweichen, erhielt bald den faden Beigeschmack
der Kungelei.
Die SPD war der Wunschverhandlungspartner der Einheitssozialisten, und diese
taten ihr Bestes, um dazu beizutragen, daß die Sozialdemokraten bald wieder
ins Kanzleramt einziehen konnten. Mitte der achtziger Jahre mochten die SPD-Politstrategen
die Hilfe der DDR schon nicht mehr missen. Die Wahlkampfmunition von jenseits
der Mauer wurde erbeten und gewährt.
Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Johannes Rau etwa sagt die Unwahrheit,
wenn er behauptet, er habe sich als SPD-Kanzlerkandidat bei den Bundestagswahlen
vom Januar 1987 keine Vorteile durch Absprachen mit der SED verschafft. Das
Gegenteil trifft zu.
Er war am 18. September 1986 vor die Presse getreten und hatte verkündet,
die DDR-Führung werde den ungehinderten Zustrom von Asylbewerbern von Ost-
nach West-Berlin unterbinden. Fast 40 000 Ausländer, vor allem Tamilen, waren
zwischen dem 1. Januar und dem 12. September über den Ost-Berliner Flughafen
Schönefeld in den Westteil der Stadt gekommen - eines der heißesten Themen
im Wahlkampf.
Wolfgang Schäuble (CDU) hatte als Kanzleramtsminister schon im Februar 1986
mit dem SED-Westexperten und Politbüromitglied Hermann Axen im Bundeskanzleramt
Tacheles geredet - "im Ton verbindlich, aber in der Sache hart",
berichtete der Politbürokrat per Telegramm aus Bonn seinem Generalsekretär.
Und auch danach hatte die Bundesregierung die DDR-Führung immer wieder aufgefordert,
die Grenze für Asylanten zu schließen. Ohne Erfolg.
Raus Behauptung, das SPD-Präsidium habe lediglich Minister Schäuble bei seinen
Gesprächen mit der DDR unterstützen wollen, gehört ins Reich der Legenden.
Statt dessen wollten die Sozialdemokraten der Konkurrenz wahlwerbewirksam
das Asylantenthema nehmen; das belegen die Akten der SED.
Erfolg im Wahlkampf
Am 5. September
1986 reiste Egon Bahr auf Wunsch seines Vorsitzenden Willy Brandt nach Ost-Berlin
zu Erich Honecker und zum "lieben Hermann Axen". Die SPD-Führung
trieb die Sorge, der Bundesregierung könne es gelingen, "im Spätherbst
nach eventuell guten Gesprächen mit der DDR mit einem Ergebnis einen großen
Erfolg im Wahlkampf zu erreichen", notierte der SED-Protokollant.
Das zu verhindern war Bahrs Aufgabe. Er erklärte dem SED-Chef, daß die DDR
"mit diesem Problem an Einfluß auf die BRD wie nie zuvor" gewinne,
und fügte listig hinzu: "Es erhebt sich nur die Frage: Gibt es eine Möglichkeit,
eine Regelung zu erreichen - nicht eine geschriebene Vereinbarung, sondern
eine Regelung, bei der jeder entscheidungsfrei bleibt -, die auch im Hinblick
auf das Wahlergebnis vom 25. 1. 1987 günstig wäre?"
Die einheitssozialistische Handreichung sollte nicht umsonst gewährt werden.
Die Gesprächsnotiz zitiert den Abrüstungsexperten mit den Worten: "Im
Auftrag von Willy Brandt möchte ich mitteilen: Wir wollen in aller Form erklären,
daß bei einer Regierungsübernahme durch die SPD die Regierung der BRD voll
die Staatsbürgerschaft der DDR respektieren wird und damit dieses Thema beerdigt
wird."
Wollte Bahr damit
zusagen, daß eine sozialdemokratisch geführte Bundesregierung die DDR-Staatsbürgerschaft
nicht nur pragmatisch achten, sondern auch anerkennen würde?
Honecker zeigte sich großzügig und versicherte, "daß wir alles tun, um
der SPD nicht zu schaden". So vereinbarten der SED-Chef und das SPD-Präsidiumsmitglied,
daß Kandidat Rau eine Erklärung zur Asylantenfrage formulieren und in Ost-Berlin
vorlegen solle, bevor er damit an die Öffentlichkeit trete. Honecker: "Wir
werden uns dann die Erklärung von Rau ansehen, wir wollen Kohl nicht nutzen."
Wolfgang Clement, damals stellvertretender SPD-Bundesgeschäftsführer
in Bonn, heute Chef der nordrhein-westfälischen Staatskanzlei, freute sich
über Raus Erfolg: "Das ist praktische Politik." Aber alle SED-Großmut
konnte die Niederlage der SPD nicht abwenden; sie erhielt bei der Wahl im
Januar 1987 nur 37 Prozent der Stimmen. Im April begab sich Bahr zu Axen,
um die Gründe des Desasters zu erläutern. Manchmal sei er "nahezu verzweifelt"
gewesen, heißt es einer
SED-Aktennotiz. "Vieles habe mit der Person von Rau zusammengehangen."
Der Kanzlerkandidat habe seine Losung "Was gut ist für Nordrhein-Westfalen,
ist auch gut für die Bundesrepublik" verabsolutiert.
Bahr klagte überdies über Zerwürfnisse in der eigenen Partei. Brandt empfinde
eine "tiefe Abneigung" gegen Helmut Schmidt und "wolle mit
diesem auch nicht zusammentreffen". Düstere Perspektiven zeichnete er
für die anstehenden Bürgerschaftswahlen in Hamburg - SPD-Bürgermeister Klaus
von Dohnanyi sei "ausgebrannt und habe keine Chance".
Für die Bundestagswahlen
1990 wurde die tatkräftige Unterstützung Honeckers bereits im Oktober 1987
zugesagt und zur Vorbereitung eine "interne Diskussion mit dem Blick
auf die Linie der SPD" vereinbart. Aus dem SED-Hilfsprogramm für die
Bonner Sozialdemokratie wurde nichts mehr - mangels SED.
Auch der heutige
SPD-Kanzleraspirant Björn Engholm kam in den Genuß des Ost-Berliner Wohlwollens,
als er versuchte, bei den Landtagswahlen im September 1987 Schleswig-Holsteins
CDU-Ministerpräsidenten Uwe Barschel abzulösen. Seine Chancen standen nicht
schlecht. Sie zu verbessern, bemühte sich Bahr bei Politbürokrat Axen.
Einen winzigen
Badesee
Erstmals nach
37 Jahren sei es möglich, die Christdemokraten in Kiel zu schlagen, erklärte
er "im Namen seines Parteivorsitzenden". Er fürchtete aber, der
kurz vor der Kieler Entscheidung stattfindende Besuch Erich Honeckers in der
Bundesrepublik könne sich positiv für die CDU auswirken. Deshalb schlug er
vor, daß Engholm den Staatsratsvorsitzenden "im Hinblick auf die Landtagswahlen
in Schleswig-Holstein für zehn Minuten und vor allem auch medienwirksam"
treffen könne. Honecker war einverstanden.
Auch Bahrs zweite Bitte für seinen Genossen im hohen Norden wurde erfüllt:
Er hatte Axen gefragt, "ob man einen winzigen Badesee im Grenzgebiet
zur DDR nicht für das Baden freigeben könne, was sehr massenwirksam wäre".
Engholm werde sich in dieser Sache an Honecker wenden.
Die Akten des DDR-Außenministeriums dokumentieren, daß sich Engholm bei seinem
Fototermin mit Honecker in Bonn tatsächlich für seine badelustigen Landsleute
einsetzte und die Ernte einfuhr, die Bahr und Axen gesät hatten.
So berichteten die Lübecker Nachrichten, Engholm habe Honecker gefragt, ob
die DDR den Mechower See - der auf ihrem Territorium, aber diesseits der Grenzbefestigungen
nordöstlich von Ratzeburg lag - für westdeutsche Erfrischungsbedürftige zugänglich
machen könne. "Ob Tauschgeschäft oder Freigabe gegen Devisen", spekulierte
Lokalredakteur Andreas Moser über die Hintergründe der sich abzeichnenden
DDR-Großzügigkeit.
Nichts von beidem. Die Akten im PDS-Archiv zeigen, daß es um die Wahlen ging.
Norbert Gansel, Rüstungsexperte der SPD-Bundestagsfraktion und Engholm-Landsmann,
kommentierte im Jahr nach dem Honecker-Besuch: "Fototermine mit den Betonköpfen
der SED sind Bärendienste für den inneren Wandel in der DDR."
Grund zur Dankbarkeit
gegenüber dem Staatsratsvorsitzenden hatten auch West-Berlins Sozialdemokraten,
nachdem es ihnen im März 1989 überraschenderweise gelungen war, zusammen mit
der Alternativen Liste eine Senatsmehrheit für Walter Momper zusammenzuzimmern.
Um den rot-grünen Versuchsballon, die "Mehrheit diesseits der Union"
(Brandt), auch im Bundesgebiet attraktiver zu machen, schenkte Honecker dem
neuen Senat ein Paket Reiseerleichterungen.
Der inzwischen verstorbene Ex-Bausenator Harry Ristock, damals Mitglied des
West-Berliner Abgeordnetenhauses, bedankte sich artig beim Leiter der ZK-Westabteilung,
Gunter Rettner: Noch nie habe ein Regierender Bürgermeister "so viel
Gutes auf einmal erhalten ... Die ganze Ostpolitik der SPD sei darauf gebaut,
daß in den sozialistischen Ländern stabile Verhältnisse herrschten",
schrieb der Protokollant, während die Perestroika von KPdSU-Generalsekretär
Michail Gorbatschow das realsozialistische Lager zusammenbrechen ließ. Ristock
weiter laut SED-Akte: "Am stabilsten stünde die DDR da. Man müsse alles
dafür tun, damit das so bleibe."
Diesen Wunsch Harry Ristocks aber konnte selbst Staatsratsvorsitzender Honecker
nicht erfüllen.
Ende Juni 1989 hätten die Risse im Ostblock-Gebälk selbst vom wohlmeinendsten
SED-Partner nicht mehr übersehen werden dürfen, zumal die Proteste gegen die
gefälschten DDR-Kommunalwahlen vom 7. Mai nicht abebben wollten.
Zu diesem Zeitpunkt aber bereitete Ristock der Gedanke Sorgen, seine Partei
würde einen Kurswechsel gegenüber der DDR vornehmen. "Für die West-Berliner
SPD könne er sagen, daß das nicht in Frage" komme, versicherte er dem
ZK-Funktionär.
So etwas wie
Existenzangst
Hart ging er mit
seinem Parteifreund Erhard Eppler ins Gericht wegen dessen Bundestagsrede am
17. Juni 1989, dem Jahrestag des Arbeiteraufstands von 1953 gegen Ulbricht in
Ost-Berlin. "So wie Eppler aufgetreten sei, hätte in der heutigen Zeit
auch ein CDU-Vertreter nicht schlimmer sprechen können."
Der Vorsitzende der SPD-Grundwertekommission hatte festgestellt, daß sich in
der SED-Führung "so etwas wie Existenzangst" breitmache. Besonderen
Zorn in Ost-Berlin dürfte er mit der Bemerkung ausgelöst haben, daß "Nationen
werden und vergehen, aber eben nicht durch Beschlüsse von Gipfelkonferenzen
oder gar Parteitagen".
Eppler hatte schon zuvor seinen Genossen verschiedentlich Anlaß zum Ärger gegeben,
weil er im Gegensatz zu den meisten seiner Präsidiumskollegen die SED-Linie
auch mal hart kritisierte. Unter seiner Leitung hatten sich Vertreter der Grundwertekommission
mit Abgesandten der SED-Akademie für Gesellschaftswissenschaften seit 1984 verschiedene
Male getroffen, um über vorab abgesprochene Themen zu diskutieren - oft genug
auch, um zu streiten.
Sichtbares Resultat der Debatten war das Papier "Der Streit der Ideologien
und die gemeinsame Sicherheit" vom Sommer 1987. Darin stand für SED-Verhältnisse
schier Unglaubliches. Da war von kontroversem Dialog und offener Diskussion
innerhalb jedes Systems die Rede. Beide Seiten billigten sich gegenseitig Existenzberechtigung,
Reform- und Friedensfähigkeit zu, womit die SED gleich mehrere spätstalinistische
Glaubenssätze auf einmal aufgab - zumindest auf dem Papier. Als "Öffnung
nach Europa" interpretierte der orthodoxe ZK-Philosoph Erich Hahn die Bedeutung
des Dokuments.
Ohne große Diskussion stimmte das SED-Politbüro dem Streitpapier zu; nur der
Ex-Spanienkämpfer Alfred Neumann hatte zur ideologischen Wachsamkeit gemahnt
- und dabei übersehen, daß sein Generalsekretär längst ja gesagt hatte. Honecker
war bereit, einen hohen Preis für die Gleichstellung seiner Partei mit der SPD
zu bezahlen. Für ihn gab es nichts Erstrebenswerteres als die Anerkennung aus
Bonn, sei es auf Partei-, sei es auf Regierungsebene.
Vorsichtshalber aber ließ er noch vor Veröffentlichung des erstaunlichen Dokuments
im Neuen Deutschland und einer Live-Diskussion von SED- und SPD-Vertretern im
DDR-Fernsehen eine interne Partei-Information (Nr. 234/August 1989) formulieren,
um die Erschütterung der Genossen im Funktionärskorps und an der Basis abzufangen:
"Für uns steht daher nicht die Frage, ob sich am Wesen des Imperialismus
etwas verändert hat, sondern ob er zum Frieden gezwungen werden kann."
Und: "Von der Reformfähigkeit des Kapitalismus zu sprechen heißt, diesen
auch als reformbedürftig anzusehen."
Aber solcherlei
Beschwichtigungsversuche halfen nichts. Heftige Diskussionen wie kaum jemals
zuvor erlebten die Genossen der SED in ihren Parteiversammlungen. Bald klagten
Bürgerrechtler und Kirchenleute die Forderungen des Papiers ein - das war eine
der Absichten der Initiatoren auf SPD-Seite gewesen.
Epplers Vertreter Thomas Meyer, heute Leiter der Akademie der Politischen Bildung
der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn, hatte am Streitpapier mitformuliert, von
der SED war dazu Professor Rolf Reißig abgestellt worden, damals Leiter des
Akademie-Instituts für Wissenschaftlichen Kommunismus.
Bevor die gemeinsame Redaktionsarbeit losging, hatte sich Meyer mit Ostblock-Emigranten
beraten, welche Punkte im Papier untergebracht werden müßten, um der Opposition
in der DDR und Reformkräften in der SED zu helfen. Bis zum Schluß wunderte er
sich, daß Reißig im Auftrag von Akademie-Rektor Otto Reinhold vieles akzeptierte
und sich lediglich mit der Idee nicht anfreunden durfte, daß dialogfreudigen
Kräften im jeweils anderen Land Fotokopierer und Schreibmaschinen geliefert
werden könnten. Des Rätsels Lösung: Reißig gehörte zu den Glasnost-Begeisterten
in der SED und lag mit seinen Oberen immer wieder quer.
Eppler spiele
den Beleidigten
Als unübersehbar
wurde, daß die SED nicht bereit sein würde, die Rechnung für die Gleichstellung
zu bezahlen, zieh Erhard Eppler seine ostdeutschen Gesprächspartner im März
1989 öffentlich des Vertragsbruchs. In der Tat: Statt Dialog hatte es Prügel
und Verhaftungen gegeben.
Die Tinte unter dem Papier war noch nicht trocken gewesen, als Stasi und Volkspolizei
die Umweltbibliothek in der Ost-Berliner Zionskirche heimsuchten. Bei der
traditionellen Liebknecht-Luxemburg-Kampfdemonstration im Januar 1988 waren
die Ordnungskräfte rabiat gegen Dissidenten vorgegangen, die mit Rosa Luxemburg
die Freiheit des Andersdenkenden forderten. Schüler waren von der Schule geflogen,
weil sie die Dogmen der Staatspartei ablehnten. In einem ADN-Interview wies
Akademie-Rektor Otto Reinhold, der heute jeden Gesprächskontakt ablehnt, Epplers
Vorwürfe in schönstem SED-Deutsch zurück.
Der Direktor des DDR-Instituts für Internationale Politik und Wirtschaft,
Max Schmidt, sprach Bahr auf Epplers Auftritt an. Anschließend verfaßte er
unter dem Datum vom 4. April 1989 für Axen eine Notiz über "vertrauliche
Äußerungen" des SPD-Manns, die der SED-Außenpolitiker mit dem handschriftlichen
Vermerk "Geheim" an den einheitssozialistischen Ideologiepapst Kurt
Hager weiterleitete.
Die "in den Medien der DDR hochgespielte Erklärung der Grundwertekommission"
sei im SPD-Präsidium nicht zur Sprache gekommen, wird Bahr in der Schmidt-Notiz
zitiert. Mit ihr hätten "Eppler und seine Leute offensichtlich ihren
Frust hinsichtlich enttäuschter Erwartungen über die innere Wirkung des Papiers
in der DDR abgeladen. Eppler spiele den Beleidigten, da einige seiner Vorstellungen
nicht aufgegangen seien". Bahr "sei gegen eine öffentlich ausgetragene
Kontroverse. Er verstehe, daß die SED durch eine Erklärung von Otto Reinhold
reagieren mußte".
Außerdem informierte Bahr Schmidt darüber, daß Eppler schon im Vorjahr über
das Verhalten der SED enttäuscht war und weitere Begegnungen absagen wollte.
Aber: "Man habe Eppler im Verlauf des letzten Jahres wiederholt sagen
müssen, daß dieses Papier nicht mehr allein seine Sache sei."
Auch Niedersachsens
späterer SPD-Ministerpräsident Gerhard Schröder distanzierte sich bei einem
Treffen mit Gunter Rettner von "den Epplers", denen man das Ideologiepapier
nicht überlassen dürfe.
In den Gesprächen der gemeinsamen sicherheitspolitischen Arbeitsgruppe von
SPD und SED Mitte der achtziger Jahre ging es dagegen ohne öffentlichen und,
glaubt man den SED-Akten, weitgehend auch ohne internen Zank ab. Die Abrüstungsexperten
beider Parteien verhandelten über Vorschläge für eine chemie- und atomwaffenfreie
Zone und vertrauensbildende Maßnahmen in Europa. In einem Brief an den Leiter
der internationalen Abteilung der KPdSU, Boris Ponomarjow, versichert Axen,
daß die SED keinen Schritt ohne Abstimmung mit der sowjetischen Parteiführung
gehen werde. Die Abrüstungsgespräche mit der SPD präjudizierten nichts und
griffen staatlichen Verhandlungen nicht vor. Diese seien so wieso unwahrscheinlich
angesichts der Haltung der US-Regierung.
Das Hauptmotiv des SED-Engagements sah Axen darin: "Die Friedensbewegungen
würden einen neuen Impuls erhalten", wenn SED-SPD-Abrüstungskonzepte
vorgelegt würden. "Die SPD könnte diese Frage im Wahlkampf 1987 nutzen",
und die Kräfte im Westen, die mit Kommunisten zusammenarbeiten wollten, würden
gestärkt. "Mehr ist im Grunde genommen nicht zu erwarten."
Programmatische
Klarheit
Egon Bahr war
hinsichtlich der Abrüstungsaussichten nicht ganz so pessimistisch, aber die
Vorteile, die sich für seine Partei aus den Gesprächen ergaben, verlor auch
er keinen Augenblick aus den Augen. So erläuterte er Axen in einem Gespräch,
nach seiner und Vogels Meinung solle man es der Bundesregierung nicht zu leicht
machen, sondern es sei Zeit, sie "in den zentralen Fragen der Sicherheit
über den Tisch zu holen".
Nach Egon Bahr war Karsten Voigt wohl häufigster SPD-Besucher im Haus des
Zentralkomitees. Im Juli 1987 - die DDR war nach einer späteren Auskunft des
SED-Wirtschaftslenkers Günter Mittag längst pleite - erfreute er seine Gesprächspartner
von der Staatspartei mit Lob. Sie wollten ihn jedenfalls so verstanden haben
und berichteten ihren Vorgesetzten darüber im Apparatschik-Deutsch: "Karsten
D. Voigt äußerte sich wiederholt positiv zur Politik der SED. Ihr großer Vorzug
bestehe in der programmatischen Klarheit, im Wissen um die Probleme, in der
Stärke der politischen Organisation und in der Geschlossenheit."
Es drängte den Bonner Abgeordneten, seinen Gastgebern die Eindrücke zu schildern,
die er vom Leben im Arbeiter-und-Bauern-Staat gewonnen hatte: "Überall
in der DDR spüre man, daß es vorwärts gehe und die SED dabei die treibende
Kraft sei." Zwar könne die SPD die SED nicht kopieren und wolle dies
auch nicht, "aber vieles, was die Kommunisten der DDR politisch und organisatorisch
leisteten, hätte Hand und Fuß und sei wie das Schulungssystem beispielhaft
auch für seine Partei".
Gegenüber Hermann Axen gab Voigt laut Aktenniederschrift zu bedenken, ob nicht
bei einem Zusammentreffen zwischen Vogel und Honecker im kommenden Jahr die
Aufnahme offizieller Parteibeziehungen zu erwägen sei. Er werde, kündigte
der Parlamentarier an, prüfen lassen, ob der SPD-Bezirk Hessen-Süd Kontakte
zu einer Bezirksleitung der SED knüpfen könne.
Voigt erklärte jetzt zu diesen Passagen, sie gäben "weder im Stil noch
im Inhalt meine Bewertung der SED wieder. Kritische Äußerungen über die SED
sind unterschlagen und Höflichkeitsfloskeln in entstellender Weise übertrieben
und durch den Parteijargon der SED verfälscht worden".
Eine
vertrauliche Information
Fragt man damalige
ZK- und Stasi-Mitarbeiter, wie Voigts DDR-Besuche abgelaufen seien, dann stößt
man auf Verdächtigungen, deren Wahrheitsgehalt (noch) nicht zu überprüfen
ist. Aber es ergeben sich Fragen: Wie eng war Rarsten Voigts Beziehung zur
SED? Hat er mit deren Spitzenfunktionären weit über das schon verwerfliche
Maß gegenseitiger Wahlhilfeleistungen hinaus kooperiert? Hat er etwa der SED
Ratschläge gegeben, wie sie am geschicktesten gegen Bürgerrechtler vorgehen
könne, um öffentliches Aufsehen und die damit verbundene Belastung der Beziehungen
zwischen beiden Parteien zu vermeiden?
Zum Beispiel im Fall der mit einem befristeten Visum ausgereisten Oppositionellen
Bärbel Bohley und Wolfgang Templin, als diese befürchten mußten, daß ihnen
die DDR-Behörden die Rückkehr verweigern könnten wie 1976 Wolf Biermann: In
den Akten findet sich ein "Vermerk über eine vertrauliche Information
von K. D. Voigt" vom 8. Juli 1988. Danach hat der SPD-Außenpolitiker
die SED-ZK-Mitarbeiter Manfred Uschner und Karl-Heinz Wagner darauf hingewiesen,
daß Bohley und Templin am 6. August das Wiedereinreise-Versprechen der DDR-Führung
testen wollten.
Voigt fügte laut Aktennotiz hinzu: "Nach seiner persönlichen Meinung
wäre es die glücklichste Lösung, sie zunächst einreisen zu lassen und dann
bei oder wegen entsprechender Aktivitäten zu ergreifen und auszuweisen. Sie
selbst und die hinter ihnen stehenden Dienste rechnen damit und hoffen darauf,
daß die Sicherheitsorgane der DDR schon ihre Einreise verhindern werden. Das
beabsichtigt man gegen die sicherheitspolitische Zusammenarbeit von SED und
SPD auszuspielen."
Voigt erklärt heute zu diesem Aktenvermerk: "Richtig ist, daß ich mich
nachdrücklich und mehrfach für die freie Einreisemöglichkeit von Bärbel Bohley
und Templin eingesetzt habe." Er habe bei solchen Gelegenheiten auf die
negative Medienwirkung bei restriktivem Verhalten der SED-Führung hingewiesen.
"Alles andere sind Deutungen und Erfindungen."
Lügen also die SED-Akten, obwohl deren Verfasser wußten, daß ihre Angaben
in vielen Fällen durch parallele Berichte der Stasi überprüfbar waren? Der
ehemalige ZK-Mitarbeiter Manfred Uschner hält es aus eigener Erfahrung für
unmöglich, daß in diese oder in andere Papiere "mehr als 10 bis 15 Prozent
taktisches Kalkül hineingebracht wurden".
Uschner erinnert sich an das Gespräch mit Voigt über Bohley und Templin: "Lassen
Sie die einreisen", habe der SPD-Mann geraten, "und wenn es dann
später Aktivitäten gegen die DDR gibt, dann können Sie ja Ihren Gesetzen entsprechend
immer noch einschreiten und sie ausweisen."
Auf Nachfrage
bekräftigt der damalige SED-Reformer und heutige SPD-Sympathisant, daß sein
Duz-Freund von "ausweisen" gesprochen habe. "Für mich war das
natürlich auch etwas sensationell, daß einem ein Verhandlungspartner sagt,
welche Empfehlungen er gibt, wie man sich verhalten soll gegenüber oppositionellen
Kräften."
Vorher mit
dem ZK der SED abgesprochen
Bürgerrechtler
waren allemal ein Störfaktor für die Verfechter der gouvernementalen Nebenaußenpolitik
der SPD. Sozialdemokraten, die den Kontakt zu Oppositionellen suchten, standen
in der Kritik ihrer Parteiführung, weil sie die Beziehungen zur SED belasteten.
Die damalige SPD-Bundesgeschäftsführerin Anke Fuchs etwa äußerte gegenüber
ZK-Westabteilungschef Rettner laut dessen Bericht im Dezember 1987 "die
Sorge, daß auf Grund des pluralistischen Charakters der SPD die Führung der
Partei die Kontrolle über die Kontakte von SPD-Gliederungen und Mandatsträgern
in der DDR verlieren könne ... Priorität müßten die Parteibeziehungen haben".
Fuchs-Vorgänger Peter Glotz mußte sich von Axen im April 1988 in Ost-Berlin
belehren lassen, "daß Besuche von SPD-Politikern und -Delegationen in
der DDR vorher mit dem ZK der SED abgesprochen werden". Dieser Ordnung
habe Egon Bahr im Auftrag von Hans-Jochen Vogel zugestimmt.
In einem Meinungsaustausch mit Rettner kritisierte Glotz das Einreiseverbot
für den Wieslocher SPD-Bundestagsabgeordneten Gert Weisskirchen. Dieser habe
sich, so Glotz, die "Betreuung von Dissidenten in der DDR zur Aufgabe
gemacht". Das werde zwar "von den führenden SPD-Vertretern keineswegs
überbewertet", aber es gehe um Prinzipien, deren Einhaltung von vielen
Genossen angemahnt würde, die sonst mit Weisskirchen "nichts am Hut"
hätten.
Die Kontakte Weisskirchens, aber auch der SPD-Bundestagsabgeordneten Freimut
Duve und Hans Büchler zu DDR-Oppositionellen waren in der zweiten Hälfte der
achtziger Jahre ein Dauerthema in den einheitssozialistisch-sozialdemokratischen
Gesprächsrunden. Führende SPD-Genossen fanden nichts dabei, ihre Parteifreunde
dafür zu tadeln.
Oskar Lafontaine sprach sich zwar ebenfalls gegen das Weisskirchen-Einreiseverbot
aus, aber die SED-Akten zitieren ihn mit der Bemerkung, er halte den Bundestagsabgeordneten
für einen "Einzelgänger, der sich mit bestimmten Kontakten in der DDR
interessant machen wolle. In einer Partei wie der SPD sei es nahezu unmöglich,
alles unter Kontrolle zu bringen, schon gar nicht die Abgeordneten des Bundestages".
Lafontaine fügte zur Beruhigung seiner Partner hinzu: Auch die Kontakte führender
SPD-Politiker zur evangelischen Kirche bedeuteten nicht, daß die SED nicht
weiterhin den Vorzug genieße - jede andere Vorstellung sei "völlig absurd".
Angesprochen auf
seine öffentliche Kritik am Vorgehen der DDR-Sicherheitsorgane gegen die Umweltbibliothek
in der Zionskirche, erwiderte der stellvertretende Parteivorsitzende - nach
Rettners Eindruck "sichtlich betroffen" -, es sei "niemals
seine Absicht gewesen, die Politik Honeckers zu diskreditieren". Zu ihm
habe er ein "tiefes Vertrauen". Das habe er versucht, in seinem
"Spiegel"-Artikel zum 75. Geburtstag des Generalsekretärs auszudrücken
("Spiegel", Nr. 35/1987).
Honecker sei zu ihm immer aufrichtig gewesen. "Was seine Presseerklärung
im Hinblick auf die Vorgänge um die Zionskirche betreffe, so habe er sie in
erster Linie aus innenpolitischer Sicht abgegeben. Die Wirkungen in der DDR
habe er dabei nicht im Auge gehabt."
Und Lafontaine fügte laut SED-Aktennotiz eindringlich hinzu: "Sage bitte
Erich Honecker ..., daß alles gilt, was wir miteinander vereinbart haben."
Eine "völlige Enthaltsamkeit bei kritikwürdigen Erscheinungen in der
DDR könne er aus innenpolitischen Gründen" nicht üben. Allerdings "müsse
man in Zukunft sorgsamer abwägen, wann und wozu man das tut. Ein rechtzeitiger
Hinweis aus Berlin könne dabei sehr hilfreich sein."
Fünfe
gerade sein lassen
Im Mai 1988 empfing
der saarländische Ministerpräsident den ZK-Abteilungsleiter Rettner in Saarbrücken
und kam auf die Frage der SPD-Kontakte mit Oppositionellen zurück. Der Funktionär
berichtete danach Erich Honecker, daß nach Lafontaines Meinung "die SPD
in eine Schieflage komme, wenn sie den Konservativen das Eintreten für systemkritische
Kräfte in den sozialistischen Staaten überlasse ... Im Präsidium der Partei
herrsche Übereinstimmung, daß das Eintreten für Kräfte in den sozialistischen
Staaten, die Kritik äußerten, für die SPD zunächst eine innenpolitische Frage
sei". Aber die SPD-Führer seien sich einig darüber, "daß Sozialdemokraten
bei ihrem Auftreten in der DDR alles vermeiden müßten, was eine Stärkung dieser
Kräfte bedeute".
Erich Honecker hatte Verständnis für die innenpolitischen Nöte seines Landsmanns.
Als die beiden sich im August 1988 im Schloß Hubertusstock nahe Berlin trafen,
versicherte der im Saarland geborene SED-Chef, von seiner Partei "werde
kein Anstoß daran genommen, daß die SPD mit uns nicht in allem konform gehen
könne, aber bei der Reaktion auf bestimmte Provokationen müsse sie auch nicht
an der Spitze stehen".
Im Sommer 1989, als nicht einmal mehr die DDR-Medien die Zahl der Menschen,
die ihrem realsozialistischen Vaterland den Rücken kehrten, ignorieren konnten
und bundesdeutsche Botschaften in Budapest und Warschau besetzt wurden wie
auch die Ständige Vertretung Bonns in Ost-Berlin, unternahm Lafontaine einen
letzten Versuch, Honecker aus der Patsche zu helfen. Er schickte seinen Staatssekretär
Hanspeter Weber in die DDR, wo dieser sich am 18. August mit Rettner traf.
Weber übermittelte nach Rettners Bericht die "herzlichsten Grüße"
Lafontaines an Honecker und kam zur Sache: Sein Chef verstehe, daß die DDR
einen konsequenten Standpunkt einnehme. Die Aufnahme von Ausreisewilligen
in der bundesdeutschen Vertretung sei so "unzumutbar" wie die Tatsache,
daß in Polen und Ungarn "BRD-Pässe an DDR-Bürger ausgegeben werden".
Die Landesregierung in Saarbrücken prüfe, ob sie ein Zeichen setzen könne,
indem DDR-Bürgern, die sich besuchsweise im Saarland aufhielten, "in
Zukunft keine Pässe für Ausflüge nach Frankreich und Luxemburg mehr"
ausgehändigt würden.
Was hatte Lafontaine über Honecker geschrieben: "Wie alle Saarländer
ist er durchaus in der Lage, fünfe gerade sein zu lassen."
Konfrontiert mit den zitierten Auszügen aus den SED-Berichten, unterstellt
Oskar Lafontaine dem Verfasser, dieser gehe davon aus, "daß in den Akten
der SED die Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu finden ist. Es wäre für
einen Zeitgeschichtler hilfreich, bei der Aufarbeitung sich auf westliche
Zeitungsberichte zu stützen".
Mutige
Menschen im ZK?
Anschließend referiert
er, wann er öffentlich gegen die DDR-Politik protestiert hat. So habe er im
März 1988 "als Signal der Solidarität" demonstrativ Bürgerrechtler
zu einer Buchvorstellung eingeladen. Im Sommer 1989 habe er sich öffentlich
mit Egon Krenz gestritten, nachdem dieser die blutige Niederschlagung der
Studentendemonstrationen auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking
gerechtfertigt hatte. Außerdem habe er gefordert, in der DDR freie Gewerkschaften
und unabhängige Parteien zuzulassen.
Die Behauptung,
er habe Honecker im August 1989 aus der Bredouille helfen wollen, findet Saarlands
Ministerpräsident "geradezu infam". Die "mir über Gert Weisskirchen
in den Mund gelegten Aussagen" seien falsch. Über seine Unterstützung
der Bürgerrechtsbewegung in der DDR habe es "keine stark relativierenden
Gespräche, sondern heftige Auseinandersetzungen" gegeben. Staatssekretär
Hanspeter Weber habe "mit der Bemerkung 'Quatsch'" geantwortet,
als er ihn gefragt habe, ob er gegenüber Rettner die Möglichkeit erwähnt habe,
DDR-Bürgern im Saarland keine BRD-Pässe mehr auszuhändigen.
Alles Lüge also?
Würde man Oskar Lafontaines Erwiderung folgen, hätten die für Westfragen zuständigen
SED-Funktionäre ihre Berichte an die Vorgesetzten nach Belieben zusammengelogen
- und das in manchen Fällen über ein, zwei oder mehr Jahrzehnte. Es muß doch
mehr mutige Menschen im Haus des ZK gegeben haben, als Kenner bislang annahmen.
Erst Ende Juni 1989 hatte sich die Bonner SPD-Spitze dazu entschließen können,
neben den Kontakten zur SED die Verbindungen zur Bürgerrechtlern uneingeschränkt
gutzuheißen. Das Präsidium hatte sich nun zu der Einsicht durchgerungen, daß
die Fortsetzung der gewandelten Annäherung an die SED in einer Niederlage
bei künftigen Wahlen enden würde.
Aber noch im September beriefen sich Sozialdemokraten gegenüber SED-Vertretern
auf die innenpolitische Lage, die manchmal Polemik erfordere. Es war schließlich
die Einheitspartei, die das Zusammenspiel abbrechen mußte.
Rainer Eppelmanns Enquete-Kommission will auch die deutsch-deutschen Beziehungen
beleuchten. Sie wird nicht umhin können, die SED-Akten im Zentralen Parteiarchiv
der PDS auszuwerten, darunter auch die aus dem "Büro Axen". Es stehen
der Kommission also heftige Diskussionen ins Haus.
Der Spiegel, Nr. 35/1992
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