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In großer
Sorge
Das
Marxistische Forum
Ich bin für
ein paar Tage bei einem Freund in Berlin-Friedrichshagen untergekommen. Herbert
Brehmer war bis 1989 Offizier in der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA)
des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS). Ich hatte ihn Mitte der
achtziger Jahre kennengelernt, als er sich mir unter falschem Namen "Dr.
Herbert Bartels" als Mitarbeiter des SED-Zentralkomitees vorstellte.
Ich sollte als Lektor eines Hamburger Verlags die Memoiren von Heinz Felfe
betreuen, eines ehemaligen KGB-Spions im Bundesnachrichtendienst, und Herbert
vermittelte zwischen mir und dem Autor. Wobei vermitteln auch hieß,
seine und meine Änderungsvorschläge beim Autor durchzusetzen.
Erst viel später hat mir Herbert erzählt, daß das Buchprojekt
eine Aktion des KGB gewesen sei. Die Begeisterung in der SED habe sich in
engsten Grenzen gehalten. Und das kann man auch verstehen, denn bei der Buchvorstellung
im Ostberliner "Palasthotel" zückte Heinz Felfe zur Überraschung
aller einen bundesdeutschen Paß und präsentierte sich als Mann
mit deutsch-deutscher Staatsbürgerschaft. Felfe war der einzige DDR-Professor
mit BRD-Paß; nach seiner Entlassung aus westdeutscher Haft war der Ex-Spion
Kriminologe an der Humboldt-Universität geworden und hatte gewiß
keine allzu großen Hindernisse zu überwinden, um akademische Würden
zu erlangen.
Aktive
Maßnahmen
Es war eine gute
Zusammenarbeit mit Herbert, und dabei und viele Jahre danach diskutierten
wir über alle möglichen Dinge, auch darüber, was vielleicht
nach Honecker möglich wäre. Herbert war von Anfang an ein Anhänger
Gorbatschows. Er litt unter der Borniertheit seiner Chefs. Schon sein Vater,
ein Spanienkämpfer, war in der SED schikaniert worden, weil er in den
Westen emigriert war und nicht in die Sowjetunion, als die Nazis die Macht
übernahmen. Und Herbert hatte in der Stasi manchmal einfach nur deshalb
schlechte Karten, weil er jüdischer Herkunft ist.
Herbert gehört zu den wenigen einstigen Stasioffizieren, die sich ihrer
Vergangenheit stellen. Er könnte es sich leichter machen und sich wie
sein einstiger Chef Markus Wolf darauf hinausreden, daß der Spionagedienst
eigentlich nur den Namen gemein gehabt habe mit der Stasi. Aber so billig
läßt sich Herbert nicht heraus der Sache. Gemeinsam mit einem Freund
und Exkollegen hat Herbert unter dem Buchtitel "Auftrag: Irreführung"
aufgeschrieben, wie sie in der Abteilung X zuständig für "aktive
Maßnahmen" im Westen Politik gemacht haben. Eines der wenigen
rückhaltlos ehrlichen Bücher und das beste überhaupt zu diesem
Thema.
Ein Beispiel daraus: Heute ist immer noch hin und wieder vom "KZ-Baumeister
Lübke" die Rede. Um diesen Vorwurf in die Welt zu setzen, hatte
die Abteilung X Baupläne der Firma gefälscht, in der Lübke
zu Zeiten des Dritten Reichs arbeitete. Manche Lügen der Stasi werden
wohl ewig leben, so auch die über den Bundespräsidenten Heinrich
Lübke, den die Nazis aus allen Ämtern geworfen und 1933 bis 1935
eingesperrt hatten. Aus dem Naziopfer wurde ein Täter bis heute!
Herbert ist bald aus der PDS ausgetreten. Er will die Partei nicht mit seiner
Vergangenheit belasten. Andere sind da weniger zimperlich. Unter nicht geringem
Beifall etwa tönte ein Ex-Stasioffizier auf einem PDS-Landesparteitag
in Sachsen-Anhalt, er bereue keine Minute seines Lebens, in der er für
die Stasi gearbeitet habe.
Riesenbauten
Immer wenn ich
in Berlin bin, quartiere ich mich bei Herbert Brehmer ein. So auch, als ich
im Parteivorstand der PDS für mein Buch recherchiere. Aber an einem Tag
fahre ich mit der S-Bahn nicht bis zum Alexanderplatz, um dann von dort zum
Karl-Liebknecht-Haus zu laufen, sondern bis zur westlichen Endstation der
alten S-Bahn-Linie ErknerPotsdam, die Berlin von Ost nach West durchschneidet.
Irgendwann wird Ostberlin moderner aussehen als der Westteil der Stadt. Baustelle
um Baustelle, neue Bürogebäude, viele stehen aber leer. Auch die
Bahnhöfe an der Strecke werden renoviert und die Gleise erneuert, mit
Verspätungen ist immer zu rechnen. Der S-Bahnhof Friedrichstraße,
zu DDR-Zeiten der wichtigste Berliner Grenzübergang, ist kaum wiederzuerkennen.
Wer früher die Mauer in der S-Bahn überquerte, konnte in Häuserfassaden
Einschußlöcher aus dem letzten Krieg erkennen. Ich bin hier seit
den siebziger Jahren unzählige Male gewesen, bis 1989 hatte sich praktisch
nichts geändert, seitdem aber finde ich mich manchmal nicht mehr zurecht.
Der Landtag in
Potsdam dräut martialisch auf einer Anhöhe wie eine riesige Festung.
Von dieser Festung aus hatte die SED über die Stadt und den nach ihr
benannten Bezirk geherrscht. An solchen Riesenbauten manifestiert sich sinnbildlich,
welch gigantischen Apparat die Einheitspartei einsetzte, um ein kleines Land
zu dirigieren. 44 000 Frauen und Männer führten Ende der achtziger
Jahre die Weisungen des Politbüros aus!
Im Potsdamer Landtag bin ich mit dem Parteivorsitzenden Lothar Bisky verabredet.
In der Öffentlichkeit wurde er vor allem bekannt als Vorsitzender eines
parlamentarischen Untersuchungsausschusses, der die dubiosen Beziehungen von
Ministerpräsident Manfred Stolpe, vor der Wende Spitzenfunktionär
der evangelischen Kirche in der DDR, mit dem Ministerium für Staatssicherheit
(MfS) beleuchten sollte. Auch wenn je nach Interessenlage die Ergebnisse des
Ausschusses unterschiedlich ausgelegt worden sind, so haben doch fast alle
Teilnehmer und Beobachter Bisky bescheinigt, seinen Job mit Bravour gelöst
zu haben. In der Tat, Bisky ist der ideale Vermittler.
Sein Vorgänger Gregor Gysi ist rhetorisch brillant, ein origineller Kopf,
immer für ein Bonmot zu haben, die Idealbesetzung für jede Talkshow.
Gysi hat die Partei gerettet, als sie 1989 und 1990 mehrfach kurz vor der
Auflösung stand. Er hat die Erneuerung personifiziert, auch wenn die
Partei ihn oft nicht begriff und keineswegs erneuert war. Gysi war die PDS,
und er hat mit seiner medialen Allgegenwart viele Relikte der Vergangenheit
verkleistert. Alle Wahlkämpfe der PDS waren Gysi-Wahlkämpfe.
Aber seit die PDS aus dem gröbsten heraus ist, seit das Überleben
gesichert und die vermaledeite Streiterei um das SED-Vermögen ausgestanden
ist, bricht immer wieder Streit aus in der PDS. Wurde lange Zeit viel parteiinterner
Zwist übertönt durch Gysi und den die Partei zusammenschweißenden
Druck von außen, so treten nun die Gegensätze offen zutage. Die
Lager in der Partei haben sich formiert und tragen ihren Zoff unverbrämt
aus. Die Partei braucht jetzt einen Chef, der ausgleicht. Und das vermag niemand
besser als Lothar Bisky, der Vorsitzende wider Willen.
Man kann Bisky alles mögliche unterstellen, aber bestimmt nicht, daß
er Macht und Geltung anstrebt. Am liebsten würde der "Professor",
wie ihn manche Genossen respektvoll nennen, noch heute an irgendeiner ostdeutschen
Hochschule als Medienwissenschaftler arbeiten. Es ist nicht auszuschließen,
daß ihm das irgendwann noch einmal gelingt. Allerdings ist es fraglich,
ob seine Partei ihn ziehen läßt. Jetzt hat sie ihn erst einmal
dazu verdonnert, für den Bundestag zu kandidieren. Wenn Bisky sich nicht
aufstellen lasse, wolle er auch nicht mehr, hatte Bundestagsgruppenchef Gysi
erklärt.
So wird denn wohl die TV-Öffentlichkeit künftig hin und wieder einen
untersetzten, gemütlich wirkenden, ruhigen Brandenburger am Bundestagsrednerpult
erleben. Nein, ein Volkstribun, ein großer Redner wie Gysi ist Lothar
Bisky nicht. Ungelenk und wie spät anerzogen wirken seine Bemühungen,
seine Genossen in Parteitagsreden anzufeuern. Das ist so aufgesetzt, daß
er sich immer wieder verspricht, wenn er Temperament zeigen will.
Bisky und
der Apparat
Von Lothar Bisky
erhoffe ich mir Unterstützung bei meiner Recherche. Ich will die Korrespondenz
zwischen ihm und der Partei studieren, erfahren, wie das psychische Innenleben
der PDS aussieht, was die Genossen und was ihren Vorsitzenden bedrückt,
bewegt und erfreut. Ich weiß, daß diese Bitte mehr als ungewöhnlich
ist. In anderen Parteien würde sie wohl als Frechheit zurückgewiesen.
Da kommt ein Journalist und will Briefe lesen!
Ich frage Bisky, und der sagt, ohne lange zu überlegen, er sei einverstanden.
Ich solle mir in seinem Büro im Karl-Liebknecht-Haus die Korrespondenz
holen.
Ich fahre zurück zum Alexanderplatz und gehe schnurstracks zum Bürovorsteher
Biskys im Karl-Liebknecht-Haus, dem einstigen DDR-Karrierediplomaten Horst
Siebeck. Außer Siebeck sitzt im Büro Lutz Bertram, Medienberater
des Parteichefs. Bertram war lange Jahre der beste Jugendradiomoderator der
DDR gewesen und erfreute sich auch nach der Wende größter Beliebtheit
bei seinen Zuhörern. Bis er über seine Stasiverstrickung stürzte.
Der blinde Moderator hatte unter dem Decknamen "Romeo" der Stasi
gedient, um in den Westen reisen zu dürfen. Ich habe nicht verstanden,
wie der laute, narzißtische Zyniker Bertram und der zurückhaltende,
uneitle Bisky zusammenarbeiten konnten. Aber es klappte ja auch nur kurz.
Wenn überhaupt.
Als ich Siebeck und Bertram von meinem Gespräch mit Bisky berichte und
um die Chefkorrespondenz bitte, wird Siebeck leicht blaß, und Bertram
kräht empört los. Siebeck vertröstet mich, er müsse erst
einmal mit dem Professor telefonieren. Kurz und schlecht, das Gezerre geht
mehrere Tage, und am Ende wird mir angeboten, ich könne in Biskys Beisein
ausgewählte Korrespondenzvorgänge lesen. Darauf kann ich verzichten.
Ob Bisky und der Parteiapparat zusammenpassen, weiß ich nicht. Aber
Zweifel sind angebracht. Insider berichten, daß der Professor immer
mal wieder von seinen Mitarbeitern bearbeitet werde. Bisky denkt nicht in
den winkligen Kategorien des Parteiapparats, sondern geradeaus. Ich glaube,
er wird nie verstehen, warum Menschen um Machtpositionen wetteifern, Intrigen
spinnen oder Verdächtigungen austüfteln.
Verabschiedung
vom Klassenkampf
Es braucht einiger
Anstrengung, um Bisky in Rage zu bringen. Wenn ich es richtig beobachtet habe,
so hat ihn neben den am Ende fehlgeschlagenen Strangulationsversuchen des
Berliner Finanzamts, das die PDS mit einer so happigen wie ungerechtfertigten
Steuerforderung dicht an die Pleite trieb, kaum etwas mehr empört als
eine Anzeige im "ND" vom 18. Mai 1995: Unter der Überschrift
"In großer Sorge" reklamierten 38 Wissenschaftler, Kulturschaffende
und Bundestagsabgeordnete die Aufweichung des Oppositionsverständnisses,
die Verabschiedung vom Klassenkampf und die Ausklammerung der Eigentumsfrage.
Bisky sah in der Erklärung der "38er" einen heimtückischen
Angriff auf die Partei. Und mehr als das. In einer spontanen Erwiderung schäumte
er: "Als Vorsitzender der PDS fühle ich mich, solange niemand sonst
mit Namen genannt wird, persönlich angesprochen. Ich weise diese Vorwürfe
mit aller Entschiedenheit zurück. Wenn irgend etwas dieser Partei den
Todesstoß versetzen kann, dann ist es die historische Wiederbelebung
dieser Art von Denunziation und politischem Rufmord, bei dem weder Roß
noch Reiter genannt werden."
Was ist der Hintergrund des Streits? Die 1. Tagung des 4. PDS-Parteitags im
Januar 1995 hatte den "antistalinistischen Grundkonsens" des außerordentlichen
Parteitags vom Dezember 1989 bekräftigt: "Wir brechen unwiderruflich
mit dem Stalinismus als System." Sahra Wagenknecht war nach ultimativen
Drohungen von Bisky und Gysi nicht mehr in den Vorstand gewählt worden.
Nachdem im März 1994 auf einem PDS-Kongreß im Hinblick auf die
Bundestagswahlen im Oktober 1994 quasi ein Waffenstillstand zwischen den Lagern
zustande gekommen war, ging die Parteispitze nun, nach dem Wiedereinzug der
Partei ins Bonner Parlament, daran, ihre programmatischen Vorstellungen stärker
in der Partei zu verankern: weg vom Klassenkampfdenken und von der aufblühenden
Ostalgie, hin zu einem Reformprogramm. Gregor Gysi forderte einen "Gesellschaftsvertrag",
einen Interessenausgleich der sozialen Kräfte in Deutschland eine Todsünde
in den Augen jedes Marxisten-Leninisten (zur Strategiedebatte an anderer Stelle
mehr).
Es ist nicht überraschend, daß auch KPF-Wortführer Michael
Benjamin besorgt war und unterschrieben hat. Daneben auch der Bundestagsabgeordnete
Winfried Wolf, erst seit Januar 1997 Mitglied der Partei. Wolf war auf der
baden-württembergischen Landesliste in den Bundestag eingezogen. Er war
einer Führer der "IV. Internationale" in Deutschland und zeitweise
Ghostwriter des trotzkistischen Cheftheoretikers Ernest Mandel gewesen. Mandel
hatte vor allem in den siebziger Jahren so originelle wie faszinierende Marx-Interpretationen
vorgelegt und nicht geringen Einfluß in studentischen Kreisen gewonnen.
Winfried Wolf zeigte sich erstaunt über die heftige Reaktion, vor allem
der Parteiführung, auf den Aufruf. Die Unterzeichneten hätten keine
Namen genannt, "weil sie eine Personalisierung ablehnen und darauf verweisen
können, daß die Kritik zu einem erheblichen Teil Positionen von
Parteivorstand und Parteitag trifft", schreibt der Bundestagsabgeordnete
in einem Leserbrief an das "ND". Er weist den Vorwurf zurück,
die Besorgten wollten eine linke Plattform zimmern.
Wolf weiter: "Angesichts der Tatsache, daß der Aufruf sich als
leicht instrumentalisierbar erwies, und angesichts der Distanzierung, welche
22 von mir geschätzte PDS-MdB-Kolleginnen und -Kollegen dazu äußerten,
halte ich den Aufruf in dieser Form im nachhinein für einen Fehler. Ich
ziehe jedoch meine Unterschrift nicht zurück, auch weil dies einer undemokratischen
Unterwerfungszeremonie gleichkäme." In der Tat, die meisten
seiner Gruppenkollegen im Bundestag hielten den "Vorwurf der Aufweichung
des Oppositionsverständnisses oder gar Anpassung an die SPD" für
eine "bösartige Unterstellung".
Was in der Auseinandersetzung nicht deutlich wurde, ist die Frage, ob Wolfs
Unschlüssigkeit nicht damit zusammenhängt, daß ihm zu spät
klar geworden war, mit wem er sich eingelassen hatte. Es ergab sich nämlich
die delikate Lage, daß sich ein ausgewiesener Trotzkist plötzlich
inmitten einer Schar unverbesserlicher Altstalinisten sah.
Geschichte
auf den Leib schneidern
Die meisten "38er"
gehören zu den einstigen Ideologieproduzenten der SED. Der Philosophieprofessor
Gottfried Stiehler etwa vermerkte dereinst, "daß sich der historische
Fortschritt in der sozialistischen Gesellschaft durch Planmäßigkeit,
Proportionalität, Stetigkeit auszeichnet und daß er jenen zugute
kommt den werktätigen Klassen und Schichten der sozialistischen Gesellschaft
, die ihn vollziehen." Das zeigten "die Tatsachen".
Heinz Jung war lange Jahre Wissenschaftsfunktionär der DKP gewesen, einer
der eifrigsten Verfechter des SED-Stalinismus in der Bundesrepublik. Herbert
Hörz entdeckte die Wahrheit nur auf Seiten der Arbeiterklasse, auch in
den Naturwissenschaften , und verwies auf das "Beispiel der sozialistischen
Staaten", die "hinsichtlich des Umweltschutzes eine grundsätzlich
andere Zielstellung als kapitalistische Länder" verfolgten: "Sie
ist direkt auf das Wohl des Volkes orientiert."
Günter Görlich wurde uns in der DKP-Parteischule als Paradebeispiel
des realsozialistischen, parteilichen Schriftstellers höchstpersönlich
präsentiert. Er war so parteilich, wie seine Bücher mäßig
sind. In den Auseinandersetzungen im Schriftstellerverband der DDR um die
Biermann-Ausweisung 1977 gehörte Görlich zu den Scharfmachern um
Herrmann Kant. Görlich saß im Präsidium des von Kritikern
gesäuberten Verbands und erklärte: "Unter den komplizierten
Bedingungen des weltweiten Klassenkampfes heute ist es eine der vorrangigen
Aufgaben unserer Literatur, jeden Angriff auf die Ideale der Menschlichkeit,
unsere Weltanschauung auf ihre Weise zurückzuweisen." Willy
Sitte glorifizierte den sieghaften Proletarier in Monumentalgemälden,
war lange Jahre Präsident des DDR-Künstlerverbands und Abgeordneter
der Volkskammer.
Engelbergs
"Kristallnacht"
Der wohl prominenteste
Besorgte aber ist der Historiker Ernst Engelberg, der in den achtziger Jahren
mit einer respektablen Bismarck-Biographie hervorgetreten ist. Weniger
bekannt ist, daß Engelberg zu den wichtigsten Historikerideologen der
DDR zählte, mit dem Auftrag, die Geschichte Ulbricht und später
Honecker quasi auf den Leib zu schneidern. Engelberg dichtete mit an den voluminösen
Werken über die Historie der Arbeiterbewegung, sang mit bei den Lobeshymnen
auf den "großen Stalin" und war auch dabei, als es darum ging,
den "großen Führer" und seine Exzesse zu übertünchen
kurz und schlecht: Engelberg kämpfte an der Geschichtsfront für
die SED, immer so, wie das Politbüro es anordnete.
Über den Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953 wußte Engelberg Erstaunliches
zu berichten:
"Wer erinnerte
sich nicht der 'Kristallnacht' vom November 1938? Ist denn das eine zufällige
Parallele? Wer erinnerte sich nicht der Schläger- und Mordkolonnen der
SA schon aus den Jahren von vor 1933 (...) Dieselben wutverzerrten, stumpfsinnigen
Fressen, dieselbe Randalierwut, dasselbe verlogene Gegröle. Es soll keiner
mehr kommen und versuchen, dem 16. und 17. Juni solch ein bißchen echte
Arbeiterbewegung anzudichten."
Engelberg war
der erste Vorsitzende der von Ulbricht 1958 gegründeten Historiker-Gesellschaft
der DDR, die "alle auf dem Gebiet der Geschichtswissenschaft und des
Geschichtsunterrichts in der DDR tätigen Historiker vereinigen soll,
damit wir noch besser als bisher in der Lage sind, auf der Grundlage des dialektischen
und historischen Materialismus das sozialistische Geschichtsbild zu erarbeiten
und den Kampf gegen die Verfälschungen der Geschichte durch die Bourgeoisie
zu führen." So der DDR-Vorzeigehistoriker in einem Brief an
seinen Auftraggeber Walter Ulbricht. Engelberg kann nicht behaupten, nicht
gewußt zu haben, daß die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung
gefälscht wurde. Er war dabei.
Die SED zeigte sich dankbar. Ich habe noch gut die Worte eines DDR-Archivars
im Ohr, der mir sein Leid klagte, weil Engelberg jahrelang sämtliche
Quellen zur Bismarck-Forschung mit Beschlag belegen durfte und niemand anderer
auf diesem Feld tätig werden konnte.
Der führende Kopf der Besorgten ist der Bundestagsabgeordnete Uwe-Jens
Heuer, rechtspolitischer Sprecher seiner Partei und Hauptreferent auf diversen
Kongressen. Da ich in diesem Buch noch umfassend eingehen will auf die Vergangenheitsaufarbeitung
in der PDS, beschränke ich mich hier auf einen Hinweis: Es entbehrt nicht
einer gewissen Tragik, daß einer, der zu DDR-Zeiten keineswegs immer
"auf Linie" war, sich mittlerweile zum Kopf einer Vereinigung gemausert
hat, die vor allem eines im Sinn hat: die Legitimität der DDR und der
Diktatur der SED zu rechtfertigen.
Das letzte
bißchen Heimatboden
Mit dem Aufruf
"In großer Sorge" meldeten sich jene zu Wort, die als Parteiintelligenz
jeden Winkelzug des Politbüros mit akademischen Weihen versehen hatten.
PDS-Vorständler und Philosophieprofessor Michael Schumann hat sich und
seinen Genossen in Wissenschaft und Kultur einige Jahre vor dem Aufruf der
38 wenig schmeichelhafte Gedanken gewidmet: Die Unterdrückung durch die
Staatssicherheit sei unter anderem die "Konsequenz des Versagens anderer,
insbesondere der Parteiintelligenz [gewesen], die zum überwiegenden Teil
(...) die Anmaßung der Führung nicht in Frage stellte, sondern
im Gegenteil durch theoretische und historische Konstruktionen begründete.
(...) So war es nicht zuletzt das Ausweichen unserer intellektuellen Eliten
vor dem ganzen Ernst, vor der Not des Geistes in der bis zum äußersten
bedrohten Welt, das verantwortlich denkende und aus dieser geistigen Not aufbegehrende
Menschen in die Isolierung trieb und der Staatssicherheit ein Wirkungsfeld
eröffnete, wo sie nur ein verheerendes Unheil anrichten konnte. Die Verfehlungen
der Staatssicherheit sie sind letztlich die Folge der Verfehlungen anderer,
auch des Versagens zumindest eines Großteils der intellektuellen Eliten
der ehemaligen DDR."
Die Sorge der Parteiintellektuellen kommt spät. Sie befürchten mehr
noch als das Aufweichen des Oppositionsverständnisses der PDS den restlosen
Verlust ihrer Biographien. In dem Maß, wie die PDS hineinwächst
in die bundesdeutsche Gesellschaft, wie sie zum anerkannten Akteur im pluralistischen
Spiel wird, in dem Maß zerbröckelt das letzte Bißchen Heimatboden
für die einstige Intellektuellengarde der DDR. Wer die PDS und ihre Fraktionen
betrachtet, muß den oft unsichtbaren Faktor Heimat einrechnen. Sonst
steht man vor viel Unerklärlichem.
Vielen Intellektuellen der DDR ist die deutsche Einheit schlecht bekommen.
Gewiß, sie durften ihre akademischen Titel behalten. Und so gibt es
unzählige Professoren und Doktoren, die ihren akademischen Grad allein
ihrer SED-Treue verdanken. Das gilt auffallend auch für einstige Blockparteifunktionäre,
deren wissenschaftliche Arbeiten oft nicht einmal proseminartauglich sind.
Vor allem in den Geisteswissenschaften wirkte sich das Fehlen des Pluralismus
oft verheerend aus. Je mehr die Themen mit Macht und Politik zu tun hatten,
um so ärmlicher die Beiträge. Man lese Dissertationen oder Arbeiten
in Fachzeitschriften, um zu begreifen, welch großes, unverdientes Geschenk
der Einigungsvertrag mit seiner Titelregelung einer nicht geringen Zahl von
Menschen machte.
Die DDR hatte Wert darauf gelegt, sich eine eigene Intelligenz heranzuziehen.
In bürgerlichen Gesellschaften reproduzierte sich lange Zeit die Intelligenz
zu großen Teilen aus sich selbst heraus; Intellektualität wurde
gewissermaßen mit dem Tafelsilber in den Familien vererbt. In den fünfziger
und sechziger Jahren kappte die DDR diese Traditionslinie, bevorzugte seitdem
massiv Kinder aus Arbeiterfamilien beim Zugang zu den Hochschulen und schuf
sich damit eine "proletarische Intelligenz". Möglicherweise
wissen viele, die dereinst über die Spießigkeit der DDR die Nase
rümpften, nicht, daß ein wesentlicher Grund für die Herrschaft
des Kleingeistes nicht nur in der Diktatur von Kleingeistern wie Honecker
lag, sondern auch in der Auslöschung des Bildungsbürgertums.
Die Intellektuellen in der SED kamen in aller Regel nicht aus Akademikerfamilien,
sondern aus der Arbeiterklasse. Allein die Sozialisation an DDR-Hochschulen
und in der SED machte sie zu Angehörigen der Intelligenz, es fehlte die
biographische Tradition, es fehlten vor allem auch überlieferte ethische
Maßstäbe des bürgerlichen Humanismus. Die Kommunisten
hatten mit dem Aufkommen des Proletenkults in der Weimarer Zeit auch eine
Feindschaft gegenüber der meist bürgerlichen Intelligenz entwickelt,
die sie nie wieder ablegen sollten. Sie verachteten das Kritikerkastertum,
die vermeintliche Wankelmütigkeit, die Kulturoffenheit, weil all das
im krassen Gegensatz stand zu den festgemeißelten stupiden Lehrsätzen
des in der kommunistischen Weltbewegung siegenden Stalinismus. Generationen
von deutschen Kommunisten paukten die Grundzüge ihrer Weltanschauung
im "Kurzen Lehrgang" der Geschichte der KPdSU, einer an Primitivität
kaum zu übertreffenden Verfälschung der Oktoberrevolution und des
sozialistischem Aufbaus in der Sowjetunion, vor allem aber einer Verherrlichung
des Führerprinzips. Und so, wie Stalin als "größter Sohn
der internationalen Arbeiterklasse" schließlich auch noch die Sprachwissenschaft
revolutionieren sollte , so hatten die kommunistischen Parteien des sozialistischen
Lagers der neuen, selbstgeschaffenen Intelligenz ihre Aufgaben zuzuweisen.
Führende Rolle der Arbeiterklasse hieß auch, die Intelligenz auf
die gerade gültigen Lehrsätze des Marxismus-Leninismus festzulegen.
Weil die Frage "Wer-wen?" über das Schicksal des Sozialismus
entschied, galten Kritik und kulturelle Offenheit als "bürgerliche
Dekadenz" oder gar als "Konterrevolution". Da Menschen, die
geistig arbeiten, sich eher an Positionen reiben, fühlte sich die SED
verpflichtet, ihre Intellektuellen besonders an die Leine zu nehmen. Diese
hatten sich im offiziellen Gesellschaftsgefüge der DDR einzuordnen: hinter
der Arbeiterklasse und den Genossenschaftsbauern, schließlich war die
DDR ein "Arbeiter-und-Bauern-Staat".
Derlei ideologische und soziale Gängelung löste aber keinerlei Eruptionen
aus unter der realsozialistischen Intelligenz. Deren Angehörige erlebten
ihr Dasein nämlich als steilen Aufstieg. In der Tat, in der bürgerlichen
Gesellschaft wären Arbeiterkinder eher Arbeiter geworden als Professoren.
Viele Angehörige der Intelligenz hatten Zugriff auf Informationen, die
anderen DDR-Bürgern vorenthalten blieben. Sie konnten wenigstens zum
Teil westdeutsche Fachzeitschriften und sonstige Publikationen lesen. Viele
konnten ins westliche Ausland reisen auf Kongresse und Tagungen, weil ja die
DDR vertreten sein wollte. Nominell hatte zwar die Arbeiterklasse das Sagen,
aber keiner sozialen Schicht ging es besser als den Intellektuellen.
Die meisten Angehörigen der DDR-Intelligenz fühlten sich der Arbeiterklasse
schon durch ihre Herkunft verbunden und nicht allein durch Theorien. Sie störte
es nicht, wenn die SED darüber fabulierte, daß die Intelligenz
mit der Aufhebung des Unterschieds zwischen Kopf- und Handarbeit mit der Arbeiterklasse
verschmelzen werde. Sie hatten sozial abgesichert einen phänomenalen
Aufstieg erlebt (auch wenn sie sich gewissermaßen aus der führenden
Klasse verabschiedet hatten).
Wenn ich Äußerungen
der Besorgten lese, kann ich mir die sarkastische Bemerkung nicht verkneifen,
daß manche der SED immer noch dankbar sind für die Titelwürde.
So dankbar, daß sich die Vertreter des Marxistischen Forums vor allem
Sorgen darüber machen, wie sie ihre und ihrer einstigen Partei Vergangenheit
denn doch noch retten können. Zwar fordert das Forum die Parteiführung
immer mal wieder auf, sich über den künftigen Sozialismus auszulassen,
die Besorgten selbst aber widmen ihre geistigen Anstrengung vor allem der
eigenen Biographie.
Selbst bei der Formulierung einer politischen Strategie steht die verlorene
Identität im Vordergrund. So etwa, wenn Michael Benjamin die Stoßrichtung
des Klassenkampfes der neuen sozialen Wirklichkeit in Ostdeutschland anpassen
will: "Auf Grund der Sozialstruktur Ostdeutschlands der relativ geringen
sozialen Differenziertheit der Ostdeutschen, der westdeutschen Dominanz in
den herrschenden Schichten, der Traditionen eines Teils der Mittelschichten
wird es für eine sozialistische Partei möglich, ohne an ihren
sozialistischen Zielen Abstriche zu machen, nicht nur die kurzfristigen, sondern
auch die mittel- und die langfristigen Interessen einer sehr breiten Mehrheit
der Bevölkerung zu artikulieren. Das ist auch der rationelle Kern der
allerdings unscharfen und mißdeutigen Formel 'Volkspartei des Ostens'."
So wird der innerdeutsche Ost-West-Konflikt uminterpretiert zum Klassenkampf.
Sozialistische Politik hieße demnach, die Westdeutschen in den Führungspositionen
in Neufünfland zu bekämpfen. Wenn man sich erinnert, daß die
marxistische Bewegung dereinst die Internationalität zu ihrem wichtigsten
Prinzip erhoben hat "Proletarier aller Länder, vereinigt euch!"
, dann gerät Benjamins soziologisch ausgetüftelte Strategieempfehlung
zur unfreiwilligen Lachnummer. Das ist kein Rückfall in den Nationalismus,
wie ihn etwa die russischen Kommunisten in Reinform vorführen, sondern
ein Regredieren in den Provinzialismus.
Erklärbar sind solche Verrenkungen nur durch den Faktor Heimat. Wer hätte
jemals gedacht, daß die Heimat das letzte Bindemittel des Marxismus-Leninismus
sein könnte?
Uferlosigkeit
der Selbstabrechnung
Der Bundestagsabgeordnete
Winfried Wolf irrte sich, als er schrieb, die Besorgten wollten keine Plattform
gründen. Das ging vielmehr sehr schnell. So schnell, daß ich zweifle,
ob da nicht wenigstens einige Besorgte von Anfang an darauf hinsteuerten,
eine neue Gruppierung in der PDS ins Leben zu rufen. Schon am 29. Mai, keine
zwei Wochen nach der Annonce im "ND", wurde auf einer Veranstaltung
in Berlin-Hohenschönhausen die Gründung des Marxistischen Forums
verkündet. Der besorgte Schriftsteller Gerhard Branstner bescheinigte
bei dieser Gelegenheit der Führung seiner Partei "eine schreckliche
Mischung aus Voluntarismus und Dilettantismus". Die PDS setze sich der
Gefahr der Verbürgerlichung aus "das Schlimmste, was einer Partei
des demokratischen Sozialismus passieren kann".
Das Marxistische Forum wurde am 3. Juli offiziell gegründet und dieser
Umstand Ende des Monats dem Parteivorstand angezeigt. Im September 1995 erschien
die erste Nummer der eigenen Monatszeitschrift.
Das Marxistische Forum verkleidet die Ostalgie pseudowissenschaftlich. Das
Forum verabschiedet sich vom "antistalinistischen Gründungskonsens"
der PDS, verwirft "Stalinismus" als "Kampfbegriff" und
spricht sogar von "'Stalinismus'-Kampagnen" . Heuer schreibt: "Wer
Stalinismus, wie dies schon im Vorfeld des Parteitages geschah, mit administrativ-bürokratischem
Sozialismus [also dem realen Sozialismus der DDR] gleichsetzt, der hat keine
Möglichkeit mehr, die Vokabeln Unrechtsstaat oder Totalitarismus mit
allen daraus für die Diskriminierung der Ostdeutschen gezogenen Konsequenzen
zurückzuweisen. Ich muß mich dann auch fragen, ob ich die PDS noch
hinter mir habe, wenn ich für ein Schlußgesetz zur Beendigung der
politischen Strafverfolgung in Ostdeutschland eintrete. Es handelt sich hier
gleichsam um eine 'linke' Variante der Totaldistanzierung von der DDR."
Dieses Argument folgt einer verblüffend schlichten Logik: Wenn man die
DDR als stalinistisch beschreibt, kann man ihre Titulierung als Unrechtsstaat
nicht zurückweisen. Deshalb darf man die DDR nicht als stalinistisch
beschreiben.
Hatte noch auf dem außerordentlichen SED-Parteitag große Zustimmung
geherrscht zu Michael Schumanns Charakterisierung der DDR als stalinistisch,
so versuchen das Marxistische Forum, die Kommunistische Plattform und andere
jetzt, den Stalinismus auf die Herrschaftszeit Stalins zu begrenzen, genaugenommen
auf den Terror. Dabei sollte Wissenschaftlern, zumal Staatswissenschaftlern
oder Historikern, eigentlich klar sein, daß die Grundlagen des ökonomischen
und politischen Systems der realsozialistischen Staaten in der Stalin-Zeit
geschaffen wurden und im Fall der DDR bis 1989 weitgehend unverändert
weiterexistierten. Das Diktat der Partei in allen Teilen der Gesellschaft,
der "demokratische Zentralismus", wie auf neusprech das starre System
der Weisung von oben nach unten heißt, die Vermengung von Partei und
Staat (nicht umsonst war von der "Partei- und Staatsführung"
die Rede), die Diktatur eines kleinen, sich selbst erneuernden Zirkels, wenn
nicht des Generalsekretärs allein, die Unterwerfung des Rechts unter
politische Willkür, die Verweigerung demokratischer Freiheiten, politische
Verfolgung usw. usf. all das ist ein getreues Ergebnis der Stalin-Zeit.
Daß nach dem Tod des "Führers der Völker" 1953 die
massenmörderischen Exzesse aufhörten, änderte nichts Grundlegendes
an den Strukturen in Staat und Wirtschaft.
Die Rechtfertigung des realen Sozialismus in Kreisen des Marxistischen Forums
liest sich so: "Ihr Entstehungszusammenhang weist die sozialistischen
Alternativ-Gesellschaften trotz der Defizite als bedeutende geschichtliche
Emanzipation aus, die auf die gesamte Weltgesellschaft heilsame und positive
Rückwirkungen hatte. Dazu zählt der Zerfall des Kolonialsystems
ebenso wie die Ächtung atomar geführter Weltkriege. In Zeiten der
Kriegsverbrechen der Franzosen in Algerien und der Amerikaner in Vietnam standen
sie mit erheblichen Solidaritätsleistungen auf der Seite der Opfer. Wer
auf der Seite der Täter stand, kann als bekannt vorausgesetzt werden.
Nicht weniger bedeutsam dürfte gewesen sein, daß sich unter dem
Druck der Systemauseinandersetzung die westlichen Gesellschaften (zeitweilig?)
in zivilere Bahnen eines sozial gedämpften, demokratisch und rechtsstaatlich
kontrollierten Kapitalismus bewegten. Allein diese geschichtliche Leistung
war die Entstehung der realsozialistischen Gesellschaften wert."
Faktor
Heimat
Weil die DDR
nach Meinung des Marxistischen Forums nicht stalinistisch war, muß mit
der SED-Vergangenheit nicht grundsätzlich gebrochen werden. Folgerichtig
beschimpfen Forumvertreter jene Genossen, die es in ihrer Selbstkritik ernst
meinen: Der "Fall" Dietmar Keller ist ihnen "ein exemplarisches
Beispiel für die Maßlosigkeit, Uferlosigkeit der Selbstabrechnung".
Sie ärgern sich über Kellers Aussage in der Bundestags-Enquete-Kommission
zur Aufarbeitung der DDR-Geschichte, daß die SED zu einer Sekte verkommen
sei "mit einer jesuitischen Disziplin, einem jesuitischen Glauben, bei
fehlendem jesuitischen Intellekt". Sie rügen die "Übernahme
von extrem antikommunistischen, primitiven Schlagworten durch Keller".
Und wir entdecken, wie bei der KPF, Stalins Dreh, parteiinterne Gegner als
Erfüllungsgehilfen eines äußeren Feindes zu entlarven: Moniert
wird nämlich, daß mit der Kritik an der DDR-Vergangenheit "ein
äußerer Knüppel (Bestreben zur materiellen und ideellen Liquidierung
durch den Gegner sowie dessen 'Analyse' der Niederlage) zu einem inneren Knüppel
geworden ist und sich hierfür bereits 'Spezialisten' herausgebildet haben".
Die PDS umgeben von lauter Feinden, deren einziges Ziel darin besteht, die
Partei zu vernichten ein geradezu klassisches stalinistisches Feindbild.
Genauso geistig reduziert ist das Beharren auf dem Klassenkampf, ein weiterer
Überschneidungspunkt zwischen Forum und KPF. Nur daß sich das bei
den Damen und Herren der Wissenschaft und der Kultur gesitteter liest. Der
uns schon bekannte Gottfried Stiehler attackiert Gysis Idee eines "Gesellschaftsvertrags"
dennoch unzweideutig. Der "springende Punkt" sei, ob es in der kapitalistischen
Gesellschaft Klassen und daher Klassenkampf gebe. Wenn nein, dann sei ein
Gesellschaftsvertrag "legitim". Wenn es aber Klassen gebe, dann
habe ein solcher Vertrag keinen Sinn. Keine Frage, daß Stiehlers Votum
nach gedehnter Rabulistik für den Klassenkampf ausfällt.
Nicht nur in diesem Punkt ist die Übereinstimmung mit Positionen der
KPF offensichtlich. Beide fordern, daß die Partei sich weiterhin an
den klassischen Kriterien des realen Sozialismus orientiert, vor allem am
gesellschaftlichen Eigentum an den Produktionsmitteln . Für beide ist
der anzustrebende Sozialismus keine Fortentwicklung der Demokratie und ihrer
Institutionen, sondern ein scharfer Bruch mit der bürgerlichen Gesellschaft.
Beide fordern das Recht des Pluralismus für sich, sprechen aber gleichzeitig
vom "Klassenfeind", den es zu bekämpfen gelte es bedarf nur
geringer Phantasie, sich vorzustellen, was aus dem Pluralismus würde,
gäbe es den Sozialismus, den etwa Michael Benjamin als Doppelmitglied
in KPF und Marxistischem Forum anstrebt. In beiden Plattformen herrscht Lagerdenken
vor inklusive des üblichen Inventars von Verrätern und Agenten,
wie es für stalinistische Organisationen typisch ist , nur daß
bei den meisten Vertretern des Marxistischen Forums die Wortwahl etwas vornehmer
ausfällt.
Entscheidend ist, daß beide Gruppen die Demokratie geringschätzen.
Nur wer den Wert von Demokratie herabsetzt, kann bei allen eingestandenen
Deformationen die DDR als "sozialistischen Versuch" loben. Aber
wie kann der dann glaubwürdig für Demokratisierung im neuen Deutschland
kämpfen?
Die Übereinstimmung zwischen beiden Gruppen steht auf einem soliden Fundament.
Nicht allein durch die Kongruenz in inhaltlichen Fragen, sondern vor allem
auch durch den besagten Faktor Heimat. Wie die KPF-Leute früher als Mitglieder
und Funktionäre der herrschenden Partei eine befriedigende Identität
gefunden hatten, so schöpften die Parteiintellektuellen ihr Selbstwertgefühl
aus ihrer spezifischen Karriere. Für beide war die Revolution im Herbst
1989 eine Katastrophe. Die meist geringfügigen Abweichungen in der Argumentation
beruhen auch auf Unterschieden der Biographien.
Es gibt aber eine unscheinbare Differenz mit wichtigen Folgen. Für die
meisten KPF-Vertreter waren die SED und die DDR alles. Sie arbeiteten für
die Partei oder im Staatsapparat und fanden darin ihren Sinn des Lebens. Die
Partei und der Staat aber sind unwiderruflich gestorben und damit der Lebenssinn
der Plattformkommunisten. Die der SED verbundenen Intellektuellen hingegen
hatten neben der Partei immer die Wissenschaften, und die sind geblieben.
Vielleicht erklärt dieser kaum sichtbare, aber um so bedeutendere Unterschied
auch, warum KPF-Vertreter dazu neigen, emotional, oft haßerfüllt
zu argumentieren wie etwa Sahra Wagenknecht im Streitgespräch mit André
Brie , wohingegen die besorgten Forummarxisten sich bemühen, ihre Bestrebungen
rational zu begründen.
Auch aus diesem Grund kristallisiert sich das Marxistische Forum zunehmend
als Vertreter der rückwärtsgewandten Kräfte in der PDS heraus,
während die KPF an Einfluß verliert. Die eher dumpfe DDR-Bejahung
wird abgelöst durch ein komplexeres Geflecht von Argumenten, das auf
Wissenschaften zurückgreift, um die gleichen Ziele zu verfechten wie
die KPF wenn man so will, findet hier die Wiedergeburt des "wissenschaftlichen
Sozialismus" statt.
Dieses Konzept zur Verteidigung der Vergangenheit ist attraktiver und verspricht
mehr Erfolg als das gebetsmühlenartige Wiederkäuen platter stalinistischer
Thesen. Der Berliner Journalist Wilfried Schulz schreibt treffend: "Es
scheint, als ob die Reformer an der Spitze der PDS (...) fast so vergeblich
wie einst Gorbatschow mit Offenheit (Glasnost) und Neuem Denken gegen mentale
Nostalgie und Verdrängungsmechanismen ankämpfen."
Ex-Kulturminister Dietmar Keller sieht die Forumnostalgiker bereits in wichtigen
Fragen in der Oberhand, auch durch die Schuld der Parteiführung, die
Heuer und Genossen Themen der Parteipolitik überließen. In
Fragen der "Legitimität der DDR" und der "Strafprozesse
gegen DDR-Funktionäre" spricht das Marxistische Forum längst
für die ganze Partei.
Auch Lothar Biskys
Zorn über den "Aufstand" der 38er ist längst verraucht.
Er hat sich arrangiert mit den neuen Machtverhältnissen in der Partei.
Das wird ihm erleichtert durch die Tatsache, daß die Forumleute den
Reformflügel nach wie vor brauchen. Sollen doch Bisky, Brie und Co. der
Öffentlichkeit eine moderne sozialistische Partei vorführen. Solange
zentrale politische Inhalte vom Marxistischen Forum bestimmt werden, ist das
Uwe-Jens Heuer und Genossen nur recht. Am liebsten ist es ihnen, wenn ihre
Thesen als Beschlüsse des Parteivorstands verkündet werden. Wie
im Fall des Politbüroprozesses.
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