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 Christian v. Ditfurth
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Aus Rezensionen

"Gott sei Dank nur ein Alptraum. Aber was für einer!"
Der Spiegel

"Ditfurth, who is a historian, unwinds his story slowly and methodically, hinting at glimmers of the whole puzzle in every chapter, until all is revealed in the novel's final pages. Other Stachelmann translations are on their way to North America and England; fans of Ruth Rendell should welcome Ditfurth's quiet, authoritative voice."
The Washington Post

"Eine atemberaubende Lektüre."
Die Zeit

"It was a pleasant surprise to encounter a thriller so thoughtful and funny − and even, occasionally, profound."
Haaretz

"Ein extrem spannender, toll erzählter historischer Polit-Krimi aus einer Zeit, die es so nie gab. Faszinierend."
Brigitte

"Nichts ist, wie es scheint - Ditfurth treibt eine geistreiche Spielerei mit teils historischen, teils erfundenen Figuren. Er verdichtet ein faszinierendes Konstrukt aus Fakten und Phantasie zu einem spannenden Thriller, der mit einem überraschenden Knalleffekt endet."
Spiegel special

"German historian Ditfurth's fictional alter ego, Josef Stachelmann, makes an engaging protagonist in this well-crafted crime thriller, the first in a new series. (...) The author sensitively handles the difficult issue of how modern Germany has dealt with its past."
Publishers Weekly

"Alles dran. Das Setting steht. Wünscht man sich also noch mehr Fälle für Josef Maria Stachelmann."
Die Welt

"Ein packender Krimi, der zeigt, dass deutsche Autoren mit deutschen Themen bestens gegen internationale Konkurrenz bestehen können."
Focus

"Christian von Ditfurths Bücher sind ausgesprochen gut recherchiert, unterhaltsam geschrieben und – bei Krimis nicht unwichtig – sie sind spannend."
NDR Info

"Ditfurth wollte einen Thriller schreiben, der historisch Interessierten zusätzlich ein reizvolles Denkspiel bietet. Beides ist ihm gelungen."
Capital

"Ein atemberaubendes Szenario, mit sicherer Hand ausgeführt."
Facts

"Des personnages très réussis et le portrait fidèle d’une Allemagne toujours en proie aux démons du passé."
Le Monde

"A tense thriller, deeply rooted in Nazi history."
Kirkus Reviews

Probekapitel

 

Prolog

Post-Rudi hatte sie an der Ecke Hasenheide/Fichtestraße abgesetzt. Sie waren einen trinken gewesen im Clash, und jetzt wollte Rudi heim, weil er morgen früh rausmusste und Rosi sowieso nicht mitkommen würde. Das hatte ihm ein paar Minuten die Laune verhagelt, aber er nahm natürlich trotzdem das Papppäckchen mit, das Rosi ihm gegeben hatte, mit der Bitte, es verschlossen für sie aufzubewahren. Den Kneipenbesuch war sie ihm schuldig gewesen, schließlich hatte er Konny seine Uniform geliehen und sie nicht mehr zurückbekommen, nachdem die Katastrophe geschehen war. Es war gut ein Jahr vergangen seitdem, aber noch immer wachte Rosi mit diesen schrecklichen Bildern auf. Der Golf mit laufendem Motor, die beiden Typen darin, wie die Räder quietschten, als sie auf Konny in der Postleruniform losrasten und ihn totfuhren. Es war Mord gewesen, aber die Bullen hatten ihr nicht geglaubt, hatten sie als Hysterikerin abgetan. Ja, sie war ausgerastet, aber wie soll man einen klaren Gedanken fassen, wenn vor den eigenen Augen ein Freund ermordet wird? Sie sah Konnys Leiche immer wieder übers Auto fliegen, wie eine Puppe, ohne Kontrolle über die Glieder. Und ihn ihr bohrte die Frage, ob sie schuldig geworden sei. Ob sie es hätte verhindern können.
Sie ging die Fichtestraße hoch, rechts das Cochon de Bourgeois, ein französisches Restaurant für Leute mit Brieftasche. Hinter sich hörte sie Schritte.
Hätte sie Konny warnen können? Dieser Gedanke plagte sie. Hätte sie nicht ahnen müssen, dass die Typen im Golf Konny ermorden wollten, sie hatten schließlich mit laufendem Motor gewartet? Immer wieder sagte sie sich, dass es erst nach dem Mord klar geworden war, ihr jedenfalls. Es konnte so viele Gründe geben, warum zwei Idioten parkten und den Motor nicht ausschalteten. Aber das tröstete sie nicht. Konny war tot.
Sie hörte es trappeln in ihrem Rücken. Dann ein Schlurfen.
Auf der anderen Seite sah sie die graue Betonmasse des Gasometers mit seinen zubetonierten Fenstern, die aussahen wie große Schießscharten. Oben aufgesetzt auf den Koloss, der im Krieg als Hochbunker gedient hatte, ein Kasten aus Stahl und Glas. Licht brannte. Links, nach einer Lücke, ein mehrstöckiges weißes Haus, auch viel Glas, modern, teuer, Eigentumswohnungen. Es wurde viel gebaut, die Reichen eroberten den Gräfekiez, wer die steigenden Mieten nicht bezahlte, musste gehen, nach Neukölln, Moabit, in den Wedding oder noch weiter an den Rand Berlins. Bis auch dort die Immobilienhaie auftauchten.
Sie erreichte die Kreuzung zur Urbanstraße, die den Kiez sechsspurig teilte. Die Fußgängerampel war rot, Rosi schaute nach beiden Seiten, auch hinter sich, aber da ging nur ein Pärchen Hand in Hand zur Körtestraße. Sie gackerte hell, es hallte. Rosi querte die Urbanstraße, nachdem ein Taxi vorbeigeschlichen war. Sie blickte dem Auto nach und glaubte einen Augenblick, Matti sitze hinterm Steuer. Ihn hatte sie schon eine Weile nicht mehr gesehen. Vielleicht will ich's nicht, er erinnert mich an Konny. Er, Twiggy und Dornröschen, die Okerstraßen-WG, die hatten angezettelt, was so schrecklich endete. Doch mit Dornröschen hatte sie gestern telefoniert und sich gewundert, dass es einfach so ging, ohne dass sie weinen musste. Sie hatte sich überwunden, weil es wichtig war und ihr niemand besser helfen konnte als Dornröschen. Bei dieser Sache.
Die Grimmstraße schloss sich an die Kreuzung in nördlicher Richtung an. Die Fahrbahnen waren geteilt durch Grün und einen Spielplatz.
Ein gutes Stück vor ihr spazierte ein Mann mit schwarzen Haaren und einer Lederjacke. Er hatte einen federnden Schritt. Er sah bestimmt nicht schlecht aus. Vom Kanal her wehte ihr ein lauer Wind ins Gesicht.
Hinter ihr trappelte es leise. Sie drehte sich um und sah nichts. Vielleicht einen Schatten, der hinter einer Hausecke verschwand. Einbildung, sagte sie sich. Einbildung. Du spinnst. Da ist niemand. Und wenn doch? Na und? Sie spürte den Schweiß auf der Stirn, unter den Armen. Sie fröstelte.
Ein Klicken, nicht weit von ihr. Sie zuckte zusammen und lief schneller. Sie hatte es nicht mehr weit. Nur bis zum Ende der Grimmstraße. Ein paar Häuser noch, vor dem Casolare. Sie sah schon den Betonschuppen, übersät mit Graffiti, gegenüber dem italienischen Restaurant. Dessen Fenster waren dunkel.
Der Mann vor ihr ging langsamer. Auf der Höhe des Schuppens blieb er stehen. Rosi sah es aufglimmen. Das Licht des Feuerzeugs zeigte ein kantiges Gesicht, lange Koteletten. Rosi fror. Sie hielt an, der Mann blickte beiläufig in ihre Richtung. Sie starrte ihn an und wusste in diesem Augenblick, dass er auf sie wartete. Warum? Warum auf mich? Sie ging weiter, stoppte. Schritte hinter ihr. Es waren zwei, mindestens zwei. Sie drehte sich um und erkannte die beiden Männer. Der eine gedrungen, kräftig, in Jeans und Pullover, Bürstenschnitt. Der andere groß und schlaksig, im Anzug, ein leichter, dunkler Stoff. Er trug weiße Sportschuhe und halb lange schwarze Haare. Sie wandte sich ab und rannte auf den Mann am Schuppen zu. Er musste ihr helfen. Sie sah ihn lächeln und wusste schlagartig, dass die drei Männer zusammengehörten. Treibjagd, dachte sie. Und: Komisch, was man denkt, bevor es geschieht. Als sie an dem Mann vorbeirennen wollte, schoss seine Hand zu ihrem Oberarm und umklammerte ihn mit ungeheurer Kraft. Sein Gesicht zeigte Gleichgültigkeit. Dann hatten die beiden anderen aufgeschlossen. Rosi spürte den Schlag nicht, der ihren Schädel zertrümmerte.


1: Mayday

Es war dieser Freitag, an dem Dornröschen beim Mau-Mau verlor. Das war so wahrscheinlich gewesen wie das Ende des Nahostkonflikts oder die deutsche Fußballmeisterschaft für Energie Cottbus. Aber es geschah, und Matti hätte nicht gestaunt, wenn Gullydeckel sich in fliegende Untertassen verwandelt hätten oder Pils vom Himmel geregnet wäre. Noch verblüffender war nur, dass Dornröschen die historische Niederlage locker wegsteckte, ihren Tee austrank, einen Gutenachtgruß murmelte, in ihrem Zimmer verschwand und zu telefonieren begann, und dies mit einer Stimme, die Mattis Siegesfreude wegblies wie der Sturm ein Staubkorn. Sie klang weich und wach, sie lachte, gurrte, gluckste. Nur ein Tauber wäre nicht darauf gekommen, dass am anderen Ende ein Mann war. Aber sie sprach zu leise, sodass er und Twiggy ihre Worte nicht verstanden.
Der süßliche Duft ihres Joints lag in der Luft.
Twiggy streichelte mechanisch Robbis Kopf, und Matti spürte, wie die Verzweiflung anklopfte. Sie saßen eine Weile wie erstarrt, dann maunzte Robbi, streckte sich, bearbeitete Twiggys wabblige Oberschenkel im Milchtritt, sprang auf den Fußboden und untersuchte seine Fressschale.
Matti holte zwei Bierflaschen aus dem Kühlschrank, öffnete sie, stellte eine vor Twiggy ab und setzte sich wieder.
"Sie war im Kopf nicht dabei", murmelte der. "Ganz woanders." Er zeigte zur Tür ihres Zimmers.
"Hm." Matti trank einen Schluck und stellte die Flasche bedächtig auf den Tisch, als könnte das Geräusch jemanden stören.
Robbi schmatzte. Es knackte, als er ein Trockenfutterstückchen durchbiss.
Matti spürte die Angst und versuchte sie zu verstehen. Er hatte doch auch Liebesbeziehungen mit anderen Frauen gehabt, zuletzt mit Lily, die Erinnerung schmerzte. Er hatte sie seitdem nicht mehr gesehen. Seine Gedanken folgten ihr kurz, dann schob er ihr Bild weg. Wenn Dornröschen sich mit einem Mann einließ, was dann? Würde sie ausziehen? Würde die Okerstraßen-WG sich auflösen? Ohne Dornröschen wären er und Twiggy allein, einsam zu zweit. Sie hielt alles zusammen, am Ende bestimmte immer sie. Sie hatte einen legendären Ruf in der Szene, galt als Masterbrain. Matti spürte Gefühle in sich, wie schon manchmal zuvor, Gefühle, die unbestimmt waren, die ihn Wärme und Rührung empfinden ließen. Nicht immer, aber es gab Augenblicke. Wenn Dornröschen sie verließ, was würde aus ihnen werden?
Twiggy trank und brummte etwas.
"Wer ist das?", fragte Matti. Seine Augen zeigten zu Dornröschens Zimmer. Sie lachte gerade ein bisschen zu aufgeregt.
Twiggy zuckte mit den Achseln. Er sah traurig aus, seine klugen schwarzen Augen schimmerten.
"Seit wann?", fragte Matti.
Twiggy hob eine Hand und ließ sie wieder auf den Tisch sinken.
"Verfluchte Scheiße", stöhnte Matti. Sie hatten sich gerade wieder zusammengelebt nach dem Abenteuer, bei dem Norbi und Konny ermordet worden waren. Sie hatten lange kaum darüber gesprochen. Doch Monate später, als sie nach einer Mau-Mau-Partie alle drei angetrunken waren und einen zweiten Joint intus hatten, da hatte Dornröschen erklärt, sie müssten jetzt mal reden. So gehe es nicht weiter, das Schweigegelübde gelte schließlich nur für Robbi. Der Guru und Erfinder dieses Blödsinns, Meher Baba, möge in Frieden ruhen, aber jetzt müssten sie was klären. Sie diskutierten bis zum Morgen und noch weiter. Bis jeder gesagt hatte, was geschehen war, wie es zu beurteilen sei und wie sie damit umgehen sollten. Matti gelang es, seinen Schuldkomplex zu polstern, schließlich hatte er die Katastrophe ausgelöst, als er die verfluchte DVD geklaut hatte, deren Inhalt mittlerweile einigen Herren den Job gekostet hatte. Ein kleiner Trost nur. Aber immerhin. Doch jetzt drohte Schlimmeres. Wenn Dornröschen sich verliebt hatte, was würde passieren? Würde ein Typ auftauchen und sich einfach an den Küchentisch setzen? Das konnte Matti sich nicht vorstellen. Er schaute sich um in der Küche, sah die Espressomaschine, die Twiggy besorgt hatte. Sah den Gettoblaster, in dem leise Something in the Water von Gene lief, einer Band, die ihnen Platten-Rosi empfohlen hatte. Sah Dornröschens Teekanne, den Küchenplan an der Wand und den alten Bosch-Kühlschrank. Aber er hätte sich nicht umschauen müssen, um sicher zu sein, dass hier niemand mehr hineinpasste, egal wie groß die Küche war. Hier lebten Dornröschen, Twiggy, Robbi und Matti, und hier hatte kein anderer etwas zu suchen.
"Und wenn sie auszieht?" Twiggys Frage stand in der Luft. Matti schnaufte einmal, während Dornröschen gluckste. Sie tranken, wechselten einen Blick und starrten vor sich hin.
Unvorstellbar, dachte Matti. Nur war so viel geschehen in der jüngsten Zeit, das unvorstellbar gewesen war. Wenn sie auszog, was würde aus ihnen? Einen Moment überlegte er, ob er in Dornröschens Zimmer gehen, ihr das Telefon aus den Hand nehmen und sie fragen sollte. Sie hatte kein Recht abzuhauen. Sie gehörten zusammen, und wenn sie es noch nicht kapiert hatte, dann wurde es Zeit, es ihr zu erklären.
Natürlich ging er nicht.
Sie tranken schweigend die Flaschen leer, sogar Robbi maunzte nicht, als hätte er begriffen, wie ernst die Lage war. Er streckte sich und schlich in den Flur, wo er sich vor Twiggys Tür setzte. Normalerweise hätte er gejault und an der Tür gekratzt oder wäre beleidigt zu Matti gestelzt, aber er saß still da und leckte sich eine Vorderpfote, als wäre es ihm peinlich, nicht den Rabauken oder die Diva zu geben.
Durch den Flur hörte man Dornröschens Gemurmel.
"Wenn sie einen hat, vermiesen wir es dem", sagte Twiggy leise. "Was bildet dieses Arschloch sich eigentlich ein?"
Matti nickte bedächtig. "Das ist eine Idee." Und er malte sich aus, wie sie den Kerl vorführten in einem Streit über die Revolution, den Niedergang des Kapitalismus oder die Unvermeidlichkeit imperialistischer Kriege. Während er es sich ausdachte, kamen ihm diese Begriffe vor wie Schlagworte, inhaltsleer, ausgeleiert. Altes Zeug, das mancher vor sich hertrug, um sich besser zu fühlen. Aber irgendwie mussten sie Dornröschen zeigen, dass sie ins Klo gegriffen hatte. Wollen wir doch mal sehen. Was kann so ein Typ ihr schon bieten in so einer Stinozweierbeziehung? Sie wird bald kapieren, was sie an uns hat und was an dieser Lusche. Aber dann fiel ihm ein, dass Dornröschen sich nie in einen Loser verlieben würde. Es mochte sein, dass sie morgen früh mit Glatze herumlief oder dass sie vom Fahrrad stieg und einem Idioten, der ihr nachgepfiffen hatte, ins Cabrio spuckte, aber sie würde sich nicht in den Falschen verlieben.
Nein, sie mussten es anders machen. Vielleicht sollten sie ihn Tag und Nacht überwachen, bis herauskam, dass er mal was mit einer Sozentusse gehabt hatte, einer Sozialfaschistin, wie Dornröschen sie nennen würde, wenn sie zu viel Gras geraucht hatte.
"Hm", brummte Twiggy.
Das Gemurmel aus Dornröschens Zimmer kam Matti vor wie Psychokrieg. Wie lange redete sie schon?
Plötzlich war Stille. Dornröschens Tür klackte. "Gute Nacht, Jungs!" Weg war sie.
"Puh", blies Twiggy.
Matti trank seine Flasche leer und holte zwei neue aus dem Kühlschrank, öffnete sie und stellte eine vor Twiggy.
Sie saßen bis morgens um drei und schwiegen, ausgenommen drei "Tja" von Matti und zwei "Hm" von Twiggy und schließlich "Gute Nacht!". Der Sechserpack, den Matti gerade gekauft hatte, war leer, und die angebrochene Flasche Aldi-Rotwein auch.

Dornröschen riss die Vorhänge auf. Matti blinzelte. Sie trug ihren Bademantel, die Haare lagen wirr, und in ihren Augen las Matti Angst.
"Was ist?"
"Komm! Steh auf!" Sie winkte ihn hoch. Dann verließ sie das Zimmer, und Matti hörte, wie sie mit Twiggy das Gleiche veranstaltete. "Los!"
Matti zog eine Trainingsjacke an und tappte in die Küche. Auf dem Tisch eine Zeitung und ein Becher. Robbi saß auf einem Stuhl und jaulte. Matti holte das Thunfischfutter aus dem Kühlschrank und füllte das Schälchen. Dornröschen kam mit Twiggy im Schlepptau. Sie tippte auf die Berliner Zeitung, deren Lokalteil aufgeschlagen auf dem Küchentisch lag. Ein Foto und eine Überschrift: "Mord im Gräfekiez". Das Bild zeigte Rosi.
Matti und Twiggy starrten regungslos auf das Foto.
"Vorgestern", sagte Dornröschen. "Ihre Leiche wurde auf der Admiralbrücke gefunden."
Matti überkam ein saublödes Gefühl. "Jetzt machen sie uns fertig", sagte er.
Dornröschen setzte sich und rührte in ihrem Teebecher. "Nein. Das ist eine andere Geschichte. Und ich glaube, ich weiß, was für eine es ist."
Die beiden Männer setzten sich an den Tisch und blickten sie an.
"Rosi hatte was herausgefunden ..."
"Woher weißt du das?", drängelte Twiggy.
Dornröschen rührte weiter in ihrem Becher und dachte nach. "Also, ich habe vor Kurzem mit ihr telefoniert, am Tag ihres Todes ... vielleicht bin ich die Letzte, mit der sie gesprochen hat ... da werden die Bullen ja bald hier aufschlagen ... die checken bestimmt die Anruferliste auf Rosis Handy." Sie gähnte noch einmal.
Mattis Hand knallte auf den Tisch. "Was ist los?"
Dornröschen gab sich unbeeindruckt. "Rosi hat was herausgefunden", wiederholte sie. Ihre großen grünen Augen blickten erst Matti an, dann Twiggy.
Robbi kratzte an Twiggys Oberschenkel, und der nahm den schwarz-weißen Kater auf den Schoß, wo er sich gleich hinfläzte, um seine Streicheleinheiten zu empfangen.
"Und was?", fragte Matti.
"Sie hat in der Stadtteilzeitung angerufen. Am Telefon wollte sie nicht viel sagen."
"Aber sie hat was gesagt?" Matti ärgerte sich über Dornröschens Zögern. Gedanken irrten durch sein Hirn: dass er irgendwie schuld sein könnte, weil es eine Racheaktion war für die Geschichte von vor einem Jahr, dass Dornröschen vielleicht auszog, dass alles zusammenbrach, was seine Welt ausmachte. Er wusste, dass nichts bliebe, wie es war, aber nicht jetzt, jetzt durfte sich nichts ändern. Die WG musste bleiben, wie sie war, Dornröschen musste bleiben, was sie war, er brauchte die Sicherheit, den Zufluchtsort, weil er sich so mies fühlte seitdem und weil er doch auch mit Lily nicht fertig war, ihm immer noch Nächte einfielen, in denen sie zusammen gewesen waren. Er wachte oft auf mit ihrem Gesicht vor Augen, mit ihrem Lächeln, sah, wie sie nackt aus dem Bett stieg und langsam zur Küche ging, als wünschte sie, dass er sie lange beobachtete. Er sah sie im Tagtraum, wie sie ihm in der Küche gegenübersaß und den Fuß des einen Beins unter den Oberschenkel des anderen steckte. Und wie sie ihn angrinste.
Dornröschen rührte in ihrem Becher und dachte nach. Dann sagte sie endlich: "Es geht um eine Immobiliengeschichte. Gräfekiez, die Verdrängung der alten Mieter durch neue, reichere Mieter. Gentrifizierung eben", murmelte sie vor sich hin. "Allein wegen dieses schrägen Begriffs ist mal einer in U-Haft gewandert, dieser Soziologe ..."
"Ja, das wissen wir doch alles. Was hat Rosi gesagt?" Matti kochte, aber er traute sich nicht, seine Wut rauszulassen, weil sie vielleicht auf dem Absprung war. Wenn sie darüber nachdachte, ob sie ausziehen sollte, genügte womöglich ein falsches Wort von ihm, und sie war weg.
"Nun mal los", brummte Twiggy.
"Also", sagte Dornröschen gähnend, "Rosi war da einer Immosauerei auf der Spur. Es geht um den Deal eines ausländischen Konzerns mit einem Bezirksstadtrat und einem Typen aus dem Senat oder so ähnlich. Das soll Knete geflossen sein, aber sie hat nicht gesagt, für was und von wem."
"Und warum erzählt sie dir das?", fragte Matti.
"Weil wir die Geschichte bringen sollten in der Stadtteilzeitung."
"In der Stadtteilzeitung?" Twiggy ließ den Mund ein paar Sekunden offen, schloss ihn und sagte: "Also wenn die einen Typen vom Senat geschmiert haben, ist das eine Nummer größer."
Dornröschen blähte die Backen und pustete Luft über den Tisch. "Wahrscheinlich hat sie geglaubt, dass die alle unter einer Decke stecken."
Matti winkte. "So blöd war sie nicht." Seltsam, in der Vergangenheitsform über sie zu sprechen.
"Oder sie war sich ihrer Sache nicht sicher", sagte Twiggy.
"Aha, und was sagt uns das?", fragte Dornröschen.
Twiggy verzog sein Gesicht. "Dass die bei einer ... großen Zeitung ihre Behauptungen genau geprüft hätten."
"Du wolltest sagen, bei einer richtigen Zeitung", schnappte Dornröschen.
Es ist gerade so, als würden wir über ein Minenfeld laufen, dachte Matti.
"Und dass wir jeden Scheiß drucken", fügte Dornröschen hinzu.
"Nun regt euch ab", sagte Matti, und im Stillen sagte er es auch zu sich.
Robbi streckte sich, eine Pfote krallte in die Tischkante, dann versank sie wieder.
Schweigen.
Endlich Twiggy: "Und wenn es doch ein Racheakt ist, wenn der Hintermann noch einen Hintermann hatte und der alle umbringen lässt, die mit der Sache zu tun hatten?"
Matti fröstelte. War es auszuschließen, dass sie einen von dieser Mafia nicht enttarnt hatten und dass der nun die Rechnung beglich? Sie hatten ihm ein Riesengeschäft versaut, ein paar Milliarden Gründe, sich zu ärgern.
"Jetzt zähl doch mal eins und eins zusammen", sagte Dornröschen betont geduldig. "Rosi hat eine Sauerei rausgekriegt, ruft mich an und wird ermordet."
"Und woher weiß der, der sie umgebracht hat, dass Rosi dich angerufen hat?", fragte Twiggy. "Und wenn er es weiß, bringt er dich dann auch um? Könnte doch sein, der glaubt, du weißt das, was Rosi herausgefunden hat."
Wieder Schweigen.
"Wenn wir wüssten, was Rosi ausgeheckt hat, wüssten wir mehr", sagte Matti. "Dann hätten wir wenigstens eine Ahnung davon, wem sie auf die Pelle gerückt ist."
Dornröschen nickte.
"Und wie finden wir es raus?", fragte Twiggy.
"Indem wir ihre Bude durchsuchen. Da wird sie das Zeug ja haben", erwiderte Dornröschen.
"Es sei denn, sie hat es versteckt." Matti kratzte sich am Ohr. "Das wissen wir aber erst, wenn wir ihre Wohnung auf den Kopf gestellt haben."
"Da sind bestimmt die Bullen gewesen und haben die Tür versiegelt", sagte Twiggy. "Also nicht schon wieder die Polizeitour. Ich habe noch vom letzten Mal die Schnauze voll."
"Warum? Hat doch geklappt", widersprach Matti. Es hatte geklappt. "Und wenn Werner uns die Polizeimarke leiht ..."
"Dann weiß es ein paar Wochen später die ganze Szene", sagte Dornröschen. Beim letzten Mal hatte Werner das Großmaul sich seinen Beinamen wieder verdient. Inzwischen wusste jeder, dass die Okerstraßen-WG einen von Werners genialen Plänen verwirklicht hatte und dass dabei die Hundemarke, die er einem Bullen bei einer heroischen Maikeilerei am Kotti abgenommen hatte, eine entscheidende Rolle spielte. Leider konnte Werner nicht die ganze Geschichte erzählen. "Underground", sagte er dann, wenn er im Clash, vorzugsweise vor jungen Genossinnen, von seinen Heldentaten raunte. "Ganz geheim, eine Aktion, die den Staat im Mark getroffen hat."
Es klingelte an der Tür. Und gleich wieder und wieder.
"Die Bullen", sagte Matti gelassen. Er ging zur Wohnungstür und öffnete sie. Davor stand in einem abgetragenen braunen Anzug Hauptkommissar Schmelzer, fett, rote Flecken im Gesicht, die Halbglatze mehr betont als getarnt durch eine darauf geklebte extralange Strähne seines grauen Haars. In seiner Begleitung ein bürstenkopfiger Jungbulle in Zivil in Jeans und schwarzem Lederblouson. Sie kannten sich lange, Schmelzer und die Okerstraßen-WG. Am Anfang hatte Feindschaft gestanden, mittlerweile verzichtete er aber darauf, die WG mit Durchsuchungen zur Gestapozeit zu belästigen, worin sich womöglich Dankbarkeit zeigte für ein unverhofftes Zusammenwirken beim DVD-Fall.
"Wir müssen mit Frau Damaschke sprechen", sagte Schmelzer.
Matti überraschte sich selbst, als er die Tür weit öffnete und zur Seite trat. Schmelzer hob die Augenbrauen und trat ein, der Jungbulle folgte ihm, ein wenig schüchtern, wie es sich gehörte, wenn man in eine Keimzelle des Terrors vordrang.
Die Zeitung war vom Küchentisch verschwunden, Twiggy und Dornröschen taten gelangweilt, als Schmelzer auftauchte.
Aber dann fragte Twiggy scharf: "Wie kommen die hier herein?",
"Lass mal", sagte Dornröschen ruhig. "Wir machen einen Deal." Ein Blick zu Schmelzer. "Sie dürfen mich hier befragen, aber meine Genossen bleiben hier. Klar?"
Schmelzer wechselte einen kurzen Blick mit dem Jungbullen. Der hatte etwa gefühlte zwei Millionen Fragezeichen im Gesicht.
"Gut", sagte Schmelzer. "Frau Damaschke, Sie haben gehört ..."
Dornröschen wischte die Frage weg mit einer knappen Handbewegung.
"Sie waren die letzte Person, mit der Frau Weinert telefoniert hat, bevor sie ermordet wurde."
Dornröschen erwiderte nichts.
Schmelzer räusperte sich. "Um was ging es in dem Gespräch?"
Dornröschen gähnte. "Um so einiges."
Schmelzer warf ihr einen erstaunten Blick zu.
"Na, um das, was zwei Freundinnen zu bereden haben. Shopping, Männer ..."
"Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?"
Dornröschen ließ ihre Augen Schmelzers Figur abtasten. "Das würde ich nicht schaffen."
"Ihrer ... Freundin wurde der Schädel eingeschlagen. Und Sie spielen Versteck mit der Polizei." Schmelzer setzte eine enttäuschte Miene auf.
Matti, Twiggy und Dornröschen wechselten Blicke. So ganz wohl fühlte sich Matti nicht. Sie wollten doch, dass der Mörder gefasst wurde, keine Frage. Aber sie trauten den Bullen nicht, und dies seit der DVD-Geschichte noch weniger als zuvor schon.
"Wir denken darüber nach, ob mir was einfällt", sagte Dornröschen.
Schmelzer schnaubte.
"Ich stehe unter Schock", sagte Dornröschen. "Teilamnesie, das verstehen Sie doch, oder?"
Schmelzer schüttelte den Kopf. Dem Jungbullen traten die Augen aus den Höhlen, er ging einen Schritt auf Dornröschen zu und bremste abrupt.
"Und aus diesem bedenklichen Zustand kann mich nur eines rasch befreien: die liebevolle Zuwendung meiner Genossen."
Matti erhob sich unter den misstrauischen Blicken des Jungbullen, stellte sich hinter Dornröschen und begann ihr sanft die Schultern zu massieren. Robbi streckte sich maunzend, lief über die Tischplatte zu Dornröschen und setzte sich auf ihren Schoß. Sie kniff ihn zart am Ohr, was ihn schnurren ließ wie ein Trabimotor mit Fehlzündungen. Der Jungbulle beobachtete die Szenerie mit aufgerissenen Augen, rote Flecken weiteten sich in seinem Gesicht. Schmelzer schüttelte den Kopf. "Sie haben meine Nummer. Wenn Ihnen was einfällt, rufen Sie mich an. Sie wissen, dass die Behinderung einer polizeilichen Ermittlungen strafbar ist ..."
"Ich schicke Ihnen ein Attest, in dem mir ...", sagte Dornröschen, ohne ihr Gesicht von Robbi abzuwenden.
Schmelzer winkte ab. "Ist schon klar." Mit den Augen zeigte er dem Jungbullen, dass sie gehen würden. Aber der stand wie erstarrt und glotzte Dornröschen an.
"Kommen Sie", sagte Schmelzer, in seiner Stimme mischten sich Mitleid und Ungeduld. Wenn er nicht gerade im Phlegma ertrank, brauchte ein Polizist Jahrzehnte, um solche Typen auszuhalten wie diese WG, und vielen gelang es nie. Manche Kollegen sehnten sich danach, diese Leute mal richtig ranzunehmen, und bei Demos taten sie es auch.
Der Jungbulle räusperte sich, es klang wie das Knurren eines gereizten Rottweilers, und folgte Schmelzer hinaus. Twiggy stellte sich in den Küchentürrahmen und beobachtete den Abmarsch, bis die Wohnungstür zuknallte.
"Und nun?", fragte Matti.
"Mit wem hast du telefoniert?", murmelte Twiggy.
Dornröschen war inzwischen in sich versunken und schien Twiggys Frage nicht gehört zu haben.
"Das kannst du nicht machen", sagte Twiggy.
Dornröschen hob langsam ihre Augen und starrte Twiggy an. "Was kann ich nicht machen? Außerdem, wir haben zurzeit gerade ein paar andere Probleme."
"Du kannst dich nicht einfach mit so einem Typen einlassen", sagte Twiggy.
"Was machen wir jetzt mit den Bullen?", fragte Matti. "Vielleicht sagst du denen doch, was du weißt. Das wäre ein ... taktischer Kompromiss." Er hätte das Wort am liebsten zurückgeholt und heruntergeschluckt.
Dornröschen guckte Matti an, dann Twiggy. Und dann schrie sie, die noch nie geschrien hatte: "Seid ihr vom wilden Affen gebissen? Hat euch irgendjemand was ins Bier geschüttet?" Ihre Hand knallte auf die Tischplatte, mit einem Fauchen sprang Robbi auf den Boden und fegte geduckt aus der Küche.
"Rosi wurde umgebracht, nachdem sie mit mir gesprochen hat. Und vielleicht wurde sie ermordet, weil sie mit mir geredet hat", zischte sie. "Und ihr habt keine anderen Sorgen als diesen Scheiß ..." Scheiß. Das Wort blieb in der Luft hängen.
Twiggy und Matti wechselten ängstliche Blicke. Und Matti dachte, wenn sie so reagiert, dann denkt sie an Auszug. Dann hat sie es nicht mehr nötig, sich zu beherrschen. Dann hat sie die Nase voll von uns und unserer WG. Wie konnte es so weit kommen? Wenn nicht alles in Brüche gehen sollte, mussten sie sich zusammenreißen. Er schickte Twiggy einen mahnenden Blick und schüttelte kaum merklich den Kopf.
"Was machen wir mit den Bullen?", fragte Matti.
Dornröschen fixierte ihn kurz und guckte dann auf die Tischplatte.
Twiggy setzte Teewasser auf und stellte ihre beiden Kannen bereit, auffällig laut. Er holte zwei Flaschen Bier aus dem Kühlschrank und packte sie auf den Tisch. "Hunger?", fragte er leise in Dornröschens Richtung. Aber sie antwortete nicht. Sie gähnte, und Matti schöpfte Hoffnung.
Der Wasserkocher begann zu zischen. Twiggy füllte Tee in eine Kanne, auf die andere legte er das Sieb. Immer wieder warf er ihr kurze Blicke zu, aber sie starrte weiterhin auf die Tischplatte. Als sie wieder gähnte, blickten die beiden sie erwartungsvoll an.
"Wir paktieren nicht mit den Bullen", sagte Dornröschen. "Der Schmelzer war ein nützlicher Idiot, das macht ihn nicht zum guten Bullen. Es gibt keine guten Bullen, diese Möglichkeit steckt nicht drin im Begriff des Bullen. Ich dachte, das hättet ihr kapiert."
Die beiden Männer guckten schuldbewusst. Twiggy ähnelte einem überdimensionierten Pudel, und Matti versuchte den Dackelblick.
"Habt ihr schon vergessen, dass die Bullen die Morde an Konny und Norbi vertuschen wollten?" Sie tippte sich an die Schläfe und schüttelte den Kopf. "Rosi hat eine Riesensauerei aufgedeckt, und wenn wir das denen" – ihr Finger wies in Richtung Tempelhof, zum Polizeipräsidium – "überlassen, war das am Ende ein Unfall. Oder ein Vergewaltigungsversuch, die Arme hätte sich mal besser nicht wehren sollen. Da wurden Bonzen geschmiert, damit die Immohaie Wowis Berlin verschönern können, und ihr wollt mich zu den Bullen schicken ..."

Nichts einfacher als das. Sie brauchten Werners Hundemarke nicht, sondern nur Dornröschens Frechheit, mit der sie sich als Rosis Schwester ausgab, die behauptete zu wissen, dass die arme Rosi bei der Wohnungsnachbarin einen Schlüssel hinterlegt hatte. Die Frechheit wurde vierfach belohnt: Die Nachbarin war da, die Bohnenstange mittleren Alters mit wirren roten Haaren und Sommersprossen war dumm genug, Dornröschens Märchen zu glauben, sie hatte einen Schlüssel, und die Wohnung war nicht versiegelt. "Jetzt finde ich bestimmt meine Halskette wieder. Sie ist nicht wertvoll, aber es hängt so viel dran, sie ist von der Großmutter", säuselte Dornröschen in der passenden Mischung von Trauer und Trost. Matti verkniff sich das Grinsen. Das fiel ihm leicht, er musste nur daran denken, wie Dornröschen telefoniert hatte in der letzten Nacht. Das Grauen griff nach ihm.
Es war eine kleine Zweizimmerwohnung im dritten Stock, die sie unter den neugierigen Blicken der Bohnenstange betraten. Das Erste, was Matti auffiel, waren die Wärme und der Geruch von Feuchtigkeit. Wie in der Sauna. Er fasste an den Heizkörper im Flur, er war warm, der Thermostat stand auf der höchsten Stufe. Auch in den anderen Zimmern waren die Heizkörper eingeschaltet. Matti drehte die Thermostaten in allen Zimmern auf Null und öffnete die Fenster. Eine Sommerbrise zog durch die Wohnung, sie wirbelte Blätter vom Schreibtisch. Das war ihr Arbeits-und-Wohn-Zimmer gewesen. An der Seitenwand stand ein Zweisitzer, Leder, abgesessen, mit glänzenden Stellen. Über der Rückenlehne hing ein Tuch mit Elefantenmotiven. Vor dem Sofa stand ein eckiger Holztisch mit Doppelplatte. Auf der unteren quetschten sich Zeitungen, Papier, Broschüren, die obere war leer. Sie gingen durch die anderen Zimmer. Überall war es ordentlich, als hätte Rosi gerade aufgeräumt.
"Das sieht so aus, als hätte jemand die Bude durchsucht", sagte Dornröschen, als sie in der Küche standen.
Twiggy blickte sie ungläubig an.
"Es ist zu ordentlich", sagte Dornröschen.
"Und die aufgedrehten Heizkörper", sagte Matti, "die Wärme soll die Spuren verfälschen, älter machen."
Twiggy nickte. "Wasser und Fettsäure verdunsten, aber so schnell nun auch wieder nicht."
"Vielleicht war Rosi einfach nur kalt am Abend, und sie hat vergessen, die Heizkörper auszudrehen. Hier ist es ziemlich feucht. Kann doch sein, dass sie so die Bude trockener kriegen ..." Matti guckte sich um, als könnte er etwas finden, um die Frage zu klären.
"Und dafür eine Schimmelpilzfarm aufmachen wollte", widersprach Twiggy.
"Bleibt ruhig, Jungs", sagte Dornröschen. "Wir halten fest: Es ist zu warm, und die Bude ist zu ordentlich. Wir suchen jetzt systematisch nach Unterlagen über Immohaie im Gräfekiez."
"Zu Befehl", sagte Matti. Er begann im Wohnzimmer, Dornröschen nahm sich das Schlafzimmer vor und Twiggy die Küche.
Matti setzte sich aufs Sofa und zog die Stapel zwischen den Tischplatten hervor. Linke Zeitschriften, Broschüren, eine mit dem Titel Wir bleiben hier!, Papiere. Matti blätterte alles durch, bis er auf eine schmale blaue Aktenmappe stieß. Sie war unbeschriftet. Er schlug sie auf und sah Protokolle einer AG Mieten. In der ersten Zeile stand jeweils das Datum, in der zweiten waren die Teilnehmer aufgelistet: Achim, Lisbeth, Willi, Dörte, Jens, Rosi, Karla, Klaus, Susanne. Im nächsten Protokoll fehlte Jens, dafür waren Gerd und Udo L. erschienen. Den anderen Udo fand Matti im vierten Protokoll. Udo K. schien aber selten aufzutauchen. Rosi war immer da gewesen. Er überflog die Protokolle, es ging um Mieterhöhungen nach Hausverkäufen. Es tauchte immer wieder ein Name auf: Kolding AG. Matti begriff schnell, dass das ein Immobilienkonzern war, mit Sitz in Rotterdam. Offenbar war die Kolding AG der aktivste Käufer, er wickelte fast zwei Drittel der Transaktionen ab, genauer gesagt, er kaufte, verkaufte aber nie. Willi: Kolding kauft am liebsten Häuser, die in einem schlechten Zustand sind. Je schlechter das Haus, desto höher der Profit. Matti legte die Mappe auf den Schoß, den Finger an der Stelle, wo Willis These stand. Eigentlich ganz einfach, dachte er. Verrottetes Haus billig kaufen, renovieren, Eigentumswohnungen oder Luxusmietbuden rein, und schon fließt die Kohle. Jedenfalls in so einem Viertel wie im Gräfekiez. Die Leute bezahlen für den Landwehrkanal, die Kneipen, den riesigen Kinderspielplatz, die Ruhe, für Kreuzberg und die Lage mitten in Berlin. Und dafür zahlen sie an Kolding. Das ist ungefähr so, als hätte man eine Gelddruckmaschine im Keller. Das Schärfste waren die Paul-Lincke-Höfe an der Ecke Reichenberger und Liegnitzer Straße, wo reiche Pinkel ihre Ferraris und Pseudogeländewagen direkt vor dem Wohnzimmer parkten, eine Provokation, CarLoft genannt, nur möglich, weil ein Wachunternehmen diese Häufung von Börsenjunkies und Werbefuzzies vor dem Zorn Kreuzbergs schützte.
Matti blätterte weiter. Von Aktionen war die Rede. Wie kann man Zuzüglern die Hölle heiß machen?, fragte Karla laut Protokoll. Sie schlug Sprayaktionen vor, Lärmattacken, Schimpfkanonaden. Man kann so einen geleckten Wichser ruhig mal anpöbeln, wenn Markt am Maybachufer ist.
Klaus gab offenbar den Strategen, jedenfalls warnte er vor den langfristig negativen Folgen. Man dürfe sich nicht von der Bevölkerung entfernen, und die fände solche Aktionsformen eher abschreckend.
Aber Karla war gar nicht einverstanden. Wenn man mit radikalen Aktionen Erfolg hat, gewinnt man auch die Mehrheit der Leute. Außerdem habe sie noch keinen anderen Vorschlag gehört, der irgendwas bringen würde. Es gibt nur die Möglichkeiten: Aktionen oder aufgeben. Rosi stimmte ihr zu: Wenn wir nichts Richtiges unternehmen, können wir auch gleich kapitulieren.
In anderen Protokollen entdeckte Matti Hinweise, dass der Streit unentschieden blieb, sich die Bürgerinitiative grob in zwei Fraktionen teilte, in Radikale wie Karla und Rosi und Weicheier wie Klaus. Diese Art von Strategen kannte Matti, die verbargen ihre Feigheit hinter einer endlosen Kette von Worten.
"Und?", fragte Dornröschen. Sie lehnte am Türrahmen.
"In dieser Ini gab es Leute wie Rosi oder so eine Karla, die standen auf Aktionen. Und diese anderen, du weißt ..."
Dornröschen winkte ab.
"Es geht um einen holländischen Immohai, der hier dick eingestiegen ist", sagte Matti nachdenklich.
Twiggy erschien hinter Dornröschen.
"Rosi kämpft gegen den Immohai, sie hat heiße Infos über den Konzern und Leute vom Senat, also muss Rosi weg", sagte Twiggy.
"Ich weiß nicht." Matti schüttelte den Kopf.
"Was weißt du nicht?", fragte Dornröschen.
"Das ist mir zu einfach."
"Meistens sind die einfachen Dinge wahr", erwiderte Dornröschen schnippisch.
"Und meistens hat Dornröschen recht", sagte Twiggy.

Matti nahm die Protokolle mit, sonst fanden sie nichts. Sie verließen die Wohnung. Vor der Tür wartete die Bohnenstange. Mit einem zuckersüßen Lächeln fragte ihr Froschmaul: "Nun, haben Sie die Kette gefunden?" Ihre Augen streiften hektisch über die drei Freunde. Matti, der als Letzter hinausgekommen war, versteckte die Mappe hinter seinem Rücken.
"Ja", säuselte Dornröschen und griff in die Tasche.
Der Bohnenstange Augen folgten Dornröschens Hand, aber als die ihre leere Hand aus der Tasche zog, atmete sie einmal durch und wendete sich abrupt ab.
"Ihr Schlüssel", sagte Twiggy.
Die Bohnenstange ließ ihre Hand nach hinten ausgreifen, schnappte den Schlüssel, als Twiggy ihn hinhielt, und verschwand in ihrer Wohnung.

Sie gingen zur Admiralbrücke. Je näher sie ihr kamen, desto langsamer liefen sie. Die Vögel zwitscherten, am blauen Himmel zeichnete ein Flugzeug, ein silbrig glänzender Punkt nur, Kondensstreifen. Ein weißes Cabrio rollte fast lautlos vorbei, darin ein junges Paar, ÜBerlin von R. E. M. verklang mit dem sich entfernenden Auto. Hier konnte kein Mord geschehen sein, dachte Matti. Dann wäre es düster, es gäbe kein Zwitschern und keine Musik.
Das Kopfsteinpflaster der Brücke glänzte im Sonnenlicht. Der Mittelstreifen, abgetrennt durch Steinpoller, ein paar waren beschmiert. Ein rundes Schild, 2,8 t, schwarze Schrift auf weißem Hintergrund, rot umrandet. Auf beiden Seiten je drei auf alt getrimmte Laternen, die mittleren trugen Doppellampen.
Sie betraten den Mittelstreifen und standen gleich vor der Umrisszeichnung. Ein paar schwarze Flecken glänzten, Rosis Blut. Überall waren Kronkorken in den Teer getreten, der die Pflastersteine verfugte.