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 Christian v. Ditfurth
 Wrangelstr. 91
 10997 Berlin
 Tel.: (030) 65006136
 Fax: (030) 96601198
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Aus Rezensionen

"Gott sei Dank nur ein Alptraum. Aber was für einer!"
Der Spiegel

"Ditfurth, who is a historian, unwinds his story slowly and methodically, hinting at glimmers of the whole puzzle in every chapter, until all is revealed in the novel's final pages. Other Stachelmann translations are on their way to North America and England; fans of Ruth Rendell should welcome Ditfurth's quiet, authoritative voice."
The Washington Post

"Eine atemberaubende Lektüre."
Die Zeit

"It was a pleasant surprise to encounter a thriller so thoughtful and funny − and even, occasionally, profound."
Haaretz

"Ein extrem spannender, toll erzählter historischer Polit-Krimi aus einer Zeit, die es so nie gab. Faszinierend."
Brigitte

"Nichts ist, wie es scheint - Ditfurth treibt eine geistreiche Spielerei mit teils historischen, teils erfundenen Figuren. Er verdichtet ein faszinierendes Konstrukt aus Fakten und Phantasie zu einem spannenden Thriller, der mit einem überraschenden Knalleffekt endet."
Spiegel special

"German historian Ditfurth's fictional alter ego, Josef Stachelmann, makes an engaging protagonist in this well-crafted crime thriller, the first in a new series. (...) The author sensitively handles the difficult issue of how modern Germany has dealt with its past."
Publishers Weekly

"Alles dran. Das Setting steht. Wünscht man sich also noch mehr Fälle für Josef Maria Stachelmann."
Die Welt

"Ein packender Krimi, der zeigt, dass deutsche Autoren mit deutschen Themen bestens gegen internationale Konkurrenz bestehen können."
Focus

"Christian von Ditfurths Bücher sind ausgesprochen gut recherchiert, unterhaltsam geschrieben und – bei Krimis nicht unwichtig – sie sind spannend."
NDR Info

"Ditfurth wollte einen Thriller schreiben, der historisch Interessierten zusätzlich ein reizvolles Denkspiel bietet. Beides ist ihm gelungen."
Capital

"Ein atemberaubendes Szenario, mit sicherer Hand ausgeführt."
Facts

"Des personnages très réussis et le portrait fidèle d’une Allemagne toujours en proie aux démons du passé."
Le Monde

"A tense thriller, deeply rooted in Nazi history."
Kirkus Reviews

Probekapitel

 

1: Pictures of Lily

Matti erschrak fast, als sich die hintere Tür öffnete, er war in die Lektüre vertieft gewesen. Er sah im Rückspiegel erst einen Pagenkopf, schwarz, dann auch ein Gesicht, nicht schön, aber anziehend, große, kluge Augen, einen Hauch asiatisch, und natürlich mit unruhigen Brauen. Er kannte dieses Gesicht. "Zum Hauptbahnhof." Er kannte auch die Stimme, nervös, drängend. So war sie immer gewesen.
Bis zu diesem Augenblick wäre Matti nicht auf die Idee gekommen, dass dieser Tag noch etwas für ihn bereithielt außer der üblichen Langeweile, unterbrochen nur durch nervige Fahrgäste. Er hatte eine Dreiviertelstunde gewartet auf dem Taxistellplatz an der Ecke Gneisenaustraße/Zossener Straße. Gleich vorne, auf der anderen Seite der Zossener Straße, der Fotoladen, in dessen einem Schaufenster gebrauchte Analogkameras und Objektive angeboten wurden. Fast direkt vor dem Taxistand die Bushaltestelle, und über die Straße hinweg nach Norden der Mittelstreifen mit der Dönerbude vor der Treppe zum U-Bahnhof. Jenseits des Mittelstreifens mit den Bäumen, deren Äste und blattlosen Zweige hilflos in die Luft ragten, auf der anderen Seite, an den Gegenfahrspuren, hinter einer Reihe parkender Autos, lag die Apotheke, die er manchmal betrat, um Pfefferminzbonbons zu kaufen und sich ein Lächeln einer der hübschen Weißgekittelten abzuholen, das es kostenlos obendrauf gab.
Über allem der zögerlich heraufziehende Frühling, der die Bäume des Mittelstreifens zu färben begann. Noch war es kalt draußen, keine zehn Grad, aber die Sonne stand am stahlblauen Himmel, und weil es Nachmittag war, war ihr Licht gerötet und weich. Er hatte in seinem E-Klasse-Benz der Uraltbaureihe W210 schon fast eine Stunde gestanden und war dann endlich auf den ersten Platz der Taxischlange gerutscht. Wer nicht warten kann, soll kein Taxifahrer werden.
Bei heruntergeklappter Sonnenblende hatte Matti in seinem abgegriffenen Reclam-Band in den Worten des Konfuzius gelesen: "Von der Welt sich verkannt zu sehen, ohne sich verbittern zu lassen: das ist auch Seelengröße." Er überlegte, was es für ihn bedeuten mochte. Wurde er verkannt? Aber er war nur Taxifahrer, auch wenn manchmal die Erinnerung in ihm bohrte, die Erinnerung an andere Möglichkeiten, die sein Leben angeboten, die er aber abgewiesen hatte. Er hätte Deutschlehrer werden können, aber nur wenn er sein Germanistikstudium an der FU nicht abgebrochen hätte. Das Studium war gut gewesen, weniger das Studieren selbst als das Umfeld. Die Solidarität, die Selbstüberhebung, die ganz eigene Genüsse bereitete. Die Vorstellung, die Geheimnisse der Welt entschlüsselt zu haben, und diese Konsequenz, die so nebenbei die Schlaffheit und Unentschlossenheit jener entlarvte, die einfach mitströmten. Doch die Vorlesungen und Seminare waren ihm auf den Geist gegangen. Weltfremdes Gedrechsel. Weitab von den wirklichen Fragen. Schlimmer noch die Aussicht, solches später selbst im Schulunterricht von sich geben zu müssen. Das war doch nicht seine Welt, auch wenn er sich lange eingeredet hatte, er würde sie zu seiner machen. Nein, das war nichts für einen jungen Mann aus einem Odenwalddorf, den es der Aufregung halber und um der Wehrpflicht zu entkommen nach Berlin verschlagen hatte vor gut dreißig Jahren. Zu dieser Welt der Literaturwissenschaften, der Linguistik und des Alt- und Mittelhochdeutschen hatte er nie einen Zugang gefunden. Er hatte sich zunächst fremd gefühlt darin und sich eingeredet, das sei normal am Anfang, aber es war ihm so fern geblieben wie der Mars, und dann kam noch die Angst vor dem Versagen angekrochen. Mehr Angst, als er aushalten konnte.
Wurde er verkannt? Er war Taxifahrer, hatte diese Arbeit erst als Nebenjob gemacht, um sein BAföG aufzubessern, und blieb Taxifahrer, als er nach dem Studienabbruch nichts anderes fand. Er hatte auch nicht richtig gesucht. Jahrelang hatte er sich eingeredet, dass das nicht alles sein würde in seinem Leben, aber mehr hatte es bisher nicht gegeben. Und seine Bemühungen darum waren schneller eingeschlafen als die Hoffnung. Er war Taxifahrer, doch irgendwie war er es auch nicht. Aber er war nicht verbittert. Er las noch einmal: "Von der Welt sich verkannt zu sehen, ohne sich verbittern zu lassen: das ist auch Seelengröße." Seelengröße? Hatte die einer, der sich abfand mit den Dingen, wie sie waren? Er hatte sich nie mit etwas abgefunden, nur, wenn es um ihn selbst ging. Und da auch noch nicht richtig.
Diese Gedanken waren verflogen, als er ihr Gesicht gesehen hatte.
Er startete den Motor, fuhr aber nicht los. Ihr Gesicht im Spiegel zeigte noch mehr Ungeduld, es verkrampfte sich fast. Er hatte nie jemanden getroffen, der ungeduldiger war als sie.
"Guten Tag, Lily."
Er sah im Rückspiegel, wie sich ihre Augen weiteten. Er drehte sich um, ihre Blicke trafen sich.
"Dass ich dich noch einmal sehe", sagte sie fast tonlos nach einer Pause. Da klang ein wenig Berliner Dialekt mit, Ickisch. Dann sagte sie noch leise: "Mensch, Matti."
Sie hatte ein bisschen zugelegt, doch es stand ihr gut. Früher war sie eher zu mager gewesen. Jetzt saß sie da in ihrem dunkelroten Hosenanzug mit dem schlanken Hals und schaute ihn über die Stupsnase hinweg eindringlich an, wie sie ihn früher manchmal angeschaut hatte. Und es nahm ihm wieder den Atem. Sie trug zwei kleine rote Perlen an den Ohren und einen schmalen silbernen Ring mit einem roten Stein. Sie hatte damals schon am liebsten rot getragen, nicht als plumpen Ausdruck einer Gesinnung, sondern weil ihr nichts besser stand. Und sie roch immer noch nach Zigarettenrauch.
"Wenn man in Berlin Taxi fährt, kann es passieren", erwiderte er bemüht cool. Er fuhr los und bog gleich links ab in die Zossener Straße, nachdem ein Lastwagen vorbeigedonnert war. "Und was machst du so?" Er war nervös, sah aber, dass seine Hände nicht zitterten.
Als sie am Willy-Brandt-Haus waren, räusperte sie sich. Auch das kannte er. Wenn sie angespannt war oder etwas Wichtiges sagen wollte, räusperte sie sich erst einmal, als müsste sie Zeit gewinnen, um es sich noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen. Aber dann sagte sie nur: "Und du bist jetzt Taxifahrer. Hast du ja früher schon gemacht …"
"Genau", sagte er. "Hab ich früher schon gemacht." Was für ein elendes Gespräch. Er blickte in den Rückspiegel, und sie sahen sich an. In ihrem Blick lag Zweifel, vielleicht sogar Misstrauen.
"Und was machst du?" Er bremste in der Höhe des Gropius-Baus.
"Anwältin, in einer Kanzlei in Charlottenburg."
Er fuhr weiter. Ein Lieferwagen blockierte die Straße, und die Schlange konnte ihn nur im Schritttempo umkurven. "Dann hast du ja erreicht, was du wolltest", sagte er, während er endlich am Lieferwagen vorbeizog. Die beiden Ladetüren standen offen, und ein Mann in einem blauen Overall schob auf der Ladefläche einen monströsen Chefsessel an die Kante, wo ein zweiter Mann im gleichen Overall wartete, um das Möbel anzunehmen.
Er schaute wieder in den Rückspiegel, und erneut trafen sich ihre Augen. Er kannte ihre Blicke, die so unterschiedlich sein konnten, kalt, gleichgültig, hasserfüllt und leidenschaftlich. Wenn sie etwas nicht glaubte, hatte sie den Tschekablick aufgesetzt, er war die Vorstufe zur seelischen Folter. Er fragte sich, wie sie ihre Gemütsschwankungen, die urplötzlich kamen und gingen, wie sie diese Spiegelungen ihrer zerrissenen Seele im Gerichtssaal verbergen konnte. Er stellte sie sich vor mit einer getönten Brille an dem Tisch, wo die Anwälte saßen.
Sie räusperte sich, während er vor einer Ampel hielt. "Es wird knapp", sagte sie.
"Wann fährt dein Zug?"
"Um 16 Uhr 38."
"Das schaffen wir locker."
Wieder ein kurzer Blickwechsel über den Spiegel. Sie holte eine Puderdose aus der Handtasche und betrachtete sich im Schminkspiegel im Dosendeckel. Sie pinselte ein wenig auf der Haut, aber er wusste, dass sie sich nur ablenken wollte. Er kannte sie so gut. Und er spürte, dass er unruhig war, wie früher, wenn er sie getroffen hatte. Beim letzten Mal war es kurz gewesen, da hatte sie geschnauzt "Mir reicht's!", und sie war abgerauscht, war die zwei Stockwerke in dem versifften Treppenhaus in der Prinzenstraße, dicht am U-Bahnhof, hinuntergedonnert, und unten auf der Straße hatte sie noch einmal einen Blick nach oben ausgepackt, voller Wut, und er war sich vorgekommen wie in einer italienischen Komödie, nur dass ihm nicht nach Lachen zumute war. Danach hatte er sie nicht mehr gesehen und nur noch mitbekommen, dass sie ihre paar Sachen abgeholt hatte, als er nicht zu Hause war. Den Schlüssel hatte sie auf dem Küchentisch hinterlassen. Aber ihr Geruch hatte noch ein paar Tage im Badezimmer gehangen.
Er schlich durch den Tunnel zum Europaplatz, und als er herauskam, regnete es. Die Sonne war hinter grauen Wolken verschwunden, und die Äste der Bäume zitterten in einer Bö. So war es immer mit ihr gewesen. Nie war etwas geblieben, wie es war.
"Hast du eine Visitenkarte?", fragte er mit rauer Stimme, als er nahe am Eingang gehalten hatte. Vor dem Kühler staute sich eine Horde Rucksack tragender Jugendlicher, von denen einer an seiner Kapuze zerrte; eine schrille Pfeife ertönte.
Er beobachtete, wie sie in ihrer Handtasche kramte, zögerlich, wie ihm schien, als müsste sie nachdenken, und es ärgerte ihn. Sie reichte ihm endlich eine beige Karte, eine überdimensionierte Leinenimitation, darauf der Name in einer Pseudo-Times. Dr. jur. Roswitha Rakowski, Vertragsrecht/Vermögensrecht. Der Name ihres Chefs – Anwaltskanzlei Dr. Müller-Kronscheidt und Partner –, dann die Anschrift – Kurfürstendamm 112a, 10711 Berlin – und schließlich Telefonnummer, Website und E-Mail. Er legte die Karte in die Ablage vor dem Automatikwahlhebel zu anderen Visitenkarten und seinem Päckchen Schwarzer Krauser. Die Rucksackhorde löste sich auf in einer Flucht zum Haupteingang. Hinter der nächsten Ecke lauerte versteckt Mehdorns Gaul, der sich um seinen Magen krümmte, als habe er in der Nacht zuvor zu viel gebechert. Matti nahm seine Visitenkarte aus der Brusttasche seines Hemds und reichte sie ihr nach hinten, als sie schon ihre Hand am Türgriff hatte. Sie zögerte, dann nahm sie die Karte, die sein Billigtintendrucker eher verunziert hatte. Er schämte sich ein bisschen für die am Rand verlaufenden blauen Buchstaben seines Namens. Sie warf einen Blick auf die Karte, ihr Gesicht straffte sich einen Augenblick, und es schien, als würde sie insgeheim seufzen. Jetzt sah er, dass sie nur einen leichten Mantel über dem Unterarm trug. "Ich bring dich zum Eingang, warte eine Sekunde." Sie steckte die Karte in ihre Handtasche.
Er stieg aus, öffnete den Kofferraum, nahm seinen Knirps und ließ ihn aufspringen. Dann trat er an die Tür, öffnete sie, während er den Schirm darüber hielt. Es nieselte nur noch, und der Wind hatte nachgelassen. Sie stieg aus, er warf die Tür zu und brachte sie zum Eingang. Ihre Schulter streifte seinen Oberarm, und sie warf ihm einen Blick zu. "Du hast dich gar nicht verändert", sagte sie, und ihr Gesicht verriet, dass sie es besser nicht gesagt hätte.
An der Tür erschrak sie: "Ich habe noch nicht bezahlt."
Er lachte. "Das holen wir nach!"
Und bevor sie etwas erwidern konnte, ging er mit langen Schritten zurück zu seinem Taxi. Sie zögerte, schüttelte ratlos den Kopf und verschwand nach einem hektischen Blick auf ihre Armbanduhr im Bahnhofsgebäude.
Er saß eine Weile auf dem Fahrersitz, dann steuerte er den Benz in die Warteschlange auf dem Europaplatz. Das gab ihm Zeit nachzudenken. Er nahm das Zigarettenpapier und den Schwarzen Krauser und füllte das Papier mit Tabak, um es routiniert zu drehen, zu lecken und zu verkleben. Er stieg aus dem Auto, es nieselte noch, und ihm fröstelte gleich. Er schlenderte auf und ab zwischen Heck und Mercedes-Stern, zündete mit einem Einwegfeuerzeug die Zigarette an und nahm einen tiefen Zug. Er hielt eine Weile die Luft an, bis der Schwindel sich meldete, dann blies er langsam aus.
Er hatte sie Lily genannt, damals. Sie hatte diesen Namen gehasst, aber zunächst ertragen, als er ihr erzählte, woher er ihn hatte. Er hatte Fotos gemacht von ihr, kurz nachdem er sie kennengelernt hatte, mit und ohne Kleidung, und die besten Bilder hatte er in seinem WG-Zimmer an die Wand über dem Schreibtisch gehängt. Pictures of Lily, so hieß ein Who-Song über feuchte Träume eines Jungen, der Bilder einer schönen Frau sammelte, das passte gut, und irgendwann gefiel es ihr sogar. Später schickte sie ihm eine Postkarte aus Südfrankreich, unterschrieben mit Lily.
Er wurde wehmütig. Wo hatte er die Fotos gelassen? Als sie zusammengezogen waren, hatte er sie ein- und nicht mehr ausgepackt. Und als sie nach ein paar Wochen abgehauen war, da wollte er sie nicht mehr sehen, schon gar nicht auf diesen Bildern. Sie hatte nur ein paar Tage gebraucht, um in sein Leben einzudringen, und er spürte jetzt, dass er sie nie losgeworden war. Als sie gegangen war, war es die Befreiung gewesen aus einem irrwitzigen Chaos, das sie mit ihrer außerirdischen Energie anrichtete, selbst ihr Schlaf war unruhig gewesen. Aber sie war verstörend intensiv, direkt und konnte unglaublich zärtlich sein, sie reizte alle seine Sinne, bis es wehtat. Der Gedanke an sie erregte ihn. Und er hatte gedacht, er könnte sie vergessen. Er lachte trocken, nahm einen kräftigen Zug und warf die Zigarette weg.
Der Regen wurde heftig. Die Menschen spannten wieder die Schirme auf oder schützten ihre Köpfe unter Kapuzen. Ein langer, hagerer Türke mit weißem Bart auf braun gegerbter Haut, Pockennarben und grauem Hut trödelte unbeeindruckt von der Bushaltestelle zum Bahnhofseingang. Wasserflecken punkteten seinen Mantel.
Ein kurzes Hupen von hinten, er startete den Motor, hob die Hand, ohne in den Rückspiegel zu schauen, und steuerte den Wagen ein paar Meter nach vorn. Er stellte den Diesel aus.
Die Bilder kreisten in seinem Kopf. Sie in einem Handwerkerkombi, in Rot, was sonst, auf einer Demo, aufgeregt, immer wieder etwas rufend, die Haare schwarzblau in der Sonne schimmernd. Es war warm gewesen, viel Haut, eine ungeheure Leichtigkeit. Mit ihr im Bett, sie war fordernd, ihr straffer Körper hatte ihn angezogen und reagierte sofort auf jede Berührung. Ihr Gesicht auf dem Kissen, die Beine etwas gespreizt, ihr Gesäß erhöht, weil es auf der zusammengerollten Decke lag, ihr Atem schwer, während er etwas zu trinken holte. Sie liebte Martini mit Eis, trank oft schon mittags, und manchmal rauchte sie Kette, manchmal gar nicht. Sie war so anders, sie wusste es, und sie genoss es.
Wo hatte er die Bilder von Lily vergraben? Er sang leise vor sich hin:

I used to wake up in the morning,
I used to feel so bad
I got so sick of having sleepless nights

Als sie ihn verlassen hatte, weil sie die Gewohnheit hasste, er hatte den Anlass längst vergessen, nachdem sie ihn also verlassen hatte, da betrank er sich zwei Wochen lang oder vielleicht auch länger, und es war ihm egal, was er trank, Hauptsache, es war Alkohol. In seinem Mund schmeckte er noch die Überbleibsel des Ekels, roch er die Erinnerungsmoleküle dieser kotzerbärmlichen Mischung aus Korn, Billiglikör, Wein, Martini, Whisky, die er nacheinander oder auch zusammen in sich hineingeschüttet hatte. Und er hörte immer wieder das Lied. Irgendwann warf er die Platte weg und tat auch sonst alles, um sie zu vergessen. Er gab die Wohnung auf, zog zurück in die Sonnenallee-WG, verkroch sich in sein Zimmer und wachte doch viele Nächte auf mit diesen Bildern vor Augen, wie sie ihm jetzt in den Kopf zurückgekehrt waren. Er sah sie vor sich, als stünde sie vor seinen Augen, aber das Bild wechselte zwischen früher und jetzt. Es waren nicht viele Unterschiede, und die schmalen Falten an den Augen und den Mundwinkeln betonten nur, wie aufregend sie immer noch war.
Er fuhr wieder ein Stück nach vorn.
Der Himmel riss auf, und die Sonne kam zurück. Sie strahlte rötlich durch den Dunst, ließ den Platz glänzen, die wartenden Busse sich in der Glasfront des Bahnhofs spiegeln und warf einen Lichtfächer in die Halle.
Die Hintertür ging auf, als er sich gerade mit Konfuzius ablenken wollte. Der Gedanke durchzuckte ihn, sie wäre es. Aber er sah im Rückspiegel ein breites Gesicht mit einem Oberlippenbart unter einer großporigen Nase, aus der Haare sprossen, und lockigen braunen Haaren mit grauen Strähnen, die Augenbrauen standen als Büschel hervor. Der Mann schnaufte, als wäre er gerannt. Matti legte den gelben Band zurück auf die Mittelkonsole, schaute nach hinten, dann nach vorn. Er war der vierte Wagen in der Reihe. Er schaute wieder den Mann an, der trug einen aufgeknöpften Ledermantel, darunter ein graues Jackett und ein weißes Hemd mit dunkelblauem Schlips, alles offenbar nicht von der Stange. Es sah gut aus, obwohl er klein und fett war.
"Sie sollten vielleicht besser in den ersten Wagen einsteigen", sagte Matti betont freundlich. Irgendetwas an dem Mann mahnte ihn, vorsichtig zu sein.
"Nein, nein", sagte der Mann mit heiserer Stimme. "Das sind die falschen Autos."
Und Matti sah im Spiegel, wie er abfällig mit der Hand winkte. Matti fuhr den ersten Mercedes in der Reihe.
Er startete den Motor und drehte sich noch einmal um.
"Potsdamer Platz", sagte der Mann und schnallte sich an.
Eine dieser Fahrten, die sich nicht lohnten.
Der Mann zündete sich eine Zigarette an. Matti tippte auf das Schild Nichtraucher über dem Handschuhfach. Der Mann zog und blies den Rauch nach vorn.
„Nichtrauchertaxi“, sagte Matti.
„Schwarzer Krauser, du rauchst auch“, sagte der Mann. „Fahr los!“
„Zigarette aus, sonst fahre ich nicht.“
„Du fährst“, sagte der Mann. „Beeil dich!“ Eine Rauchwolke nebelte Matti ein. Plötzlich ein stechender Schmerz in der Schulter. Der Mann packte ihn hart und bohrte seine Finger in Mattis Muskeln, er hatte starke Hände. „Fahr“, sagte er und klopfte ihm auf die Schulter. Er lehnte sich zurück und zog kräftig an der Zigarette.
Als die Ampel grün zeigte, bog Matti links ab in die Invalidenstraße, fuhr den Europaplatz entlang, das Rolling Horse spiegelte rotsilbrig in der Sonne, dann wieder links, auf die Bundesstraße 96, durch den noch winterbraunen Tiergarten vorbei am Platz der Republik, an Komponistendenkmal und Siegesallee, bis die Beton- und Glasmonstren des Potsdamer Platzes ragten und das Licht der Abendsonne zurückwarfen, links hinein in die Potsdamer Straße, bis auf Höhe des Sony Center die heisere Stimme ertönte: "Jetzt halten." Und es kam Matti vor, dass der Mann zwar Deutsch sprach, aber kein Deutscher war, die Betonung und das R klangen osteuropäisch.
Das Taxameter zeigte 6,80 Euro, und der Mann reichte das Geld genau abgezählt nach vorn, brummte etwas und stieg aus. Matti sah ihm nach, wie er im Sony Center verschwand. So wehrlos hatte er sich noch nie gefühlt. Er kochte vor Wut. Dieses unverschämte Arschloch. Und dann grinste ihn auch noch die Legogiraffe frech an unter ihrer blau-weißen Mütze. Er beschloss, das als Zeichen zu verstehen, seinen Arbeitstag zu beenden. Ülcan würde grummeln, aber der Chef grummelte sowieso immer.
Matti steuerte den Wagen nach Neukölln, in die Manitiusstraße, wo Ülcan seine drei Taxis und ein winziges schmuddeliges Büro in einem Hinterhof untergebracht hatte, an dessen einer Ecke seit Jahren Autowracks, ein altes Kreidler-Moped, Fahrradteile und sonstiger Rott rosteten, ein idealer Spielplatz für die kreischende Horde, die hier nachmittags durch die Gegend tobte. Der Verkehr floss zäh, aber das war Matti egal, auch dass er an diesem Tag wenig verdient hatte, seine Gedanken waren bei Lily. Immer neue Bilder fielen ihm ein. Als wäre ein Damm gebrochen, strömten sie in sein Hirn, fast wäre er auf einen Kleintransporter aufgefahren, und einmal erinnerte ihn ein wütendes Hupen daran, dass die Ampel auf Grün geschaltet hatte. Er passierte die Recyclingcontainer an der Ecke Nansenstraße und sah, dass die Hofeinfahrt geschlossen war. Auf dem dunkelgrün lackierten Tor prangte seit Jahren, rot, ziemlich mittig und kaum verblasst, Fuck you! und Anarchie. Er stieg aus und erntete den bösen Blick einer Frau mittleren Alters mit Kopftuch in einem alten Golf hinter dem Taxi, die mit ihrem Sohn auf dem Beifahrersitz reichlich nervös schien. Sie traute sich nicht vorbeizufahren, obwohl genug Platz gewesen wäre. Er schob das Tor nach oben und verfluchte Ülcan, weil er nicht darauf achtete, dass es wenigstens tagsüber offenblieb. Aber die Verfluchung war ein hilfloser Akt, eher Ausdruck von Resignation, denn wenn er Ülcan anmachte, würde der bei Allah und dem Propheten schwören, dass es nie wieder geschehen würde und dass nur eine böse Seele es ihm – natürlich ihm, wem sonst? – angetan habe. Dass es vor allem seine Fahrer nervte, war ihm gleichgültig, denn in Ülcans Welt gab es nur drei Dinge, die ihn wirklich interessierten, und das waren der Prophet, Allah und vor allem er selbst.
Matti fuhr den Wagen in die Einfahrt, die Frau hatte ihn keines Blicks mehr gewürdigt als höchsten Ausdruck ihrer Verachtung.
Detlevs Wagen stand schon vor dem Bürofenster, das man besser als Luke bezeichnet hätte. Es war der gleiche alte E-Klasse-Diesel, den er auch fuhr, nur mit gut fünfzigtausend Kilometer weniger auf der Kurbelwelle. Matti parkte neben Detlevs Benz. Er kannte den Kollegen auch schon länger als zwanzig Jahre. Der immer etwas transusige Detlev hatte nicht den Umweg über die Uni genommen, sondern war so etwas wie Kfz-Schlosser und war angeblich früher Chauffeur von einem reichen Pinkel gewesen, der seine letzten Tage allerdings in Moabit verbracht hatte. Was genau der Typ angestellt hatte, wusste Matti nicht, es ging um Puffs und verbotene Zockereien. Jedenfalls hatte es für einen 600er gereicht, die Langversion, wie Detlev versicherte. Aber sonst stellte er sich dumm, und Matti fragte nicht weiter. Ülcan waren solche weltlichen Abseitigkeiten egal, sah man vom Geld ab, das seine Fahrer ihm einbrachten, auch wenn er es in Wahrheit allein Allah verdankte.
Neben dem Eingang zum Büro lehnte Mattis Damenfahrrad mit der alten Torpedo-Dreigangschaltung und der grau-schwarzen Satteltasche, die er zum Einkaufen brauchte. Wenn er nicht arbeitete, fuhr Matti nur mit dem Fahrrad, außer bei Glatteis und Orkan. Dann zwängte er sich mit Todesverachtung in U-Bahn, S-Bahn oder Bus, er hasste es, fremdbestimmte Transportmittel zu benutzen.
Ülcans Büro bestand aus einem dunkel gebeizten Monsterschreibtisch, angeblich Jugendstil, dessen Platte, soweit nicht Zeitschriften und Papiere sie bedeckten, von Brandflecken übersät war. Hinter dem Schreibtisch saß ein kleiner Mann mit einem eckigen Gesicht und einem mächtigen Schnurrbart, so schwarz wie die kurz geschnittenen Haare und die kräftigen Augenbrauen. Die Wangen waren leicht eingefallen, die großen Augen verschickten Zornesblitze, und die Zigarette in seinen nikotinbraunen Fingern verpestete die ohnehin verpestete Luft nur noch unwesentlich. Das wenige Licht, das von außen eindrang, wurde durch Rauchschwaden gedämmt. An der Wand gegenüber dem Schreibtisch hing ein Kalender von 1992 mit einem Bild von Istanbul bei Nacht.
Keiner der beiden würdigte Matti eines Blicks, als er das Büro betrat. Detlev beugte sich gerade über den Schreibtisch, die Hände auf die Kante gestützt, und blaffte: "Quatsch. Das ist ein Arschloch, das weißt du doch!"
"Du bist ein Arschloch!", sagte Ülcan. "Der Mann ist ein Stammkunde, und wenn er sich beschwert, dann hat er recht." Er sprach gut Deutsch, aber mit einem harten R, das Matti jetzt an den Typen erinnerte, den er am Sony Center abgesetzt hatte. Die Wut meldete sich zurück. Ülcan würde auch kein Trinkgeld geben, nicht mal dem Propheten, dachte Matti. Aber er würde niemanden körperlich angreifen.
"Der Idiot behauptet, über die Pacelli gehe es schneller, und das ist Quatsch …"
"Und warum fährst du nicht …“
"Weil ich schon in der Clay war. Der wollte nur nicht den vollen Preis bezahlen. Und für den Scheißstau kann ich nichts", maulte Detlev. Er schüttelte seine rote glatte Mähne, wie er es immer tat, wenn er sauer war. Dann war seine bleiche Gesichtsfarbe fast transparent, und die Sommersprossen glühten.
"Ich ruf ihn an", sagte Ülcan. "Und jetzt hau ab." Er blies eine Qualmwolke über den Tisch.
Detlev stand noch ein paar Augenblicke in Drohhaltung, und Matti überlegte, ob der Kollege über die Platte greifen würde, um Ülcan zu würgen. Doch Detlev schnaubte nur und wandte sich ab. Grußlos verließ er das Büro, Matti schenkte er keinen Blick.
Ülcan brummte irgendwas, in dem Allah vorkam und wahrscheinlich auch der Prophet, kratzte sich an der Backe und sagte, während er zum Fenster hinausblickte: "Ihr seid mein Untergang. Der Einzige, der dieser Scheißladen über Wasser hält, bin ich … und Aldi-Klaus." Das war der dritte Fahrer, der zum Stamm gehörte. Sonst gab es noch Aushilfen, aber die wechselten ständig, weil sie zu faul waren oder mit dem Chef nicht klarkamen oder wegen beidem. Ülcan war der übellaunigste Chef, den man sich denken konnte. Aber wenn man sich an ihn gewöhnt hatte, konnte man es aushalten, zumal seine Fahrer ihn nur kurz sahen. Immerhin bezahlte er regelmäßig, wenn auch erbärmlich: dreißig Prozent der Einnahme.
Ülcan schaute Matti tranig an, aber er sagte nichts. Er hatte seinen Zorn schon an Detlev ausgelassen, und Mattis Antwort war so voraussehbar wie Ülcans Geraunze, dass faule Fahrer ihm das Geschäft ruinierten, was Matti gelassen zu kontern pflegte. Er nannte einfach eine Zahl, nämlich die Tage und Stunden, die er für andere eingesprungen war. Matti hängte den Schlüssel ans Brett neben der Tür, betastete die Taschen seiner blauen Jeansjacke, verkniff sich einen Fluch und nahm den Schlüssel wieder. Er ging hinaus zum Wagen, schloss die Fahrertür auf, holte seinen Tabak aus der Ablage, und als er die Tür zuschlug, sah er im Augenwinkel etwas Ledernes auf dem Boden hinter dem Fahrersitz stehen. Er öffnete die Hintertür und entdeckte eine dunkelbraune Aktentasche, alt, an manchen Stellen glänzend, mit schwarzen Striemen. Matti betrachtete die Tasche, und erst dachte er nur, dass er sie Ülcan geben sollte, damit der sie dem Besitzer aushändigen konnte, da der sich gewiss melden würde. Doch dann kroch ihn eine andere Idee an. Vielleicht lag in dieser Tasche etwas, das … Die gehörte mit Sicherheit diesem Mistkerl. Er bewegte die Schulter und spürte immer noch einen leichten Schmerz. Die Tasche begann nach ihm zu greifen. Er musste wissen, was darin war. Matti setzte sich auf die Rückbank und stellte die Aktentasche neben sich. Er hatte ein blödes Gefühl. Ülcan saß immer noch im Büro, es war auch unwahrscheinlich, dass er es gerade jetzt verließ. Der Chef war gehfaul wie kaum ein Zweiter. Matti öffnete den Metallverschluss und schaute hinein, dann durchsuchte er mit der Hand die Fächer. Eine Berliner Zeitung, ein in Leder gebundenes Notizbuch, ein Flachmann. Dann stieß seine Hand auf etwas Kantiges und zog es heraus. Eine Hülle für CDs oder DVDs, er öffnete sie und sah eine unbeschriftete DVD. Er schaute sie eine Weile an, als könnte er ihr ansehen, was sie gespeichert hatte. Dann klappte er die Hülle wieder zu und hielt sie in der Hand. Er drehte und wendete sie, aber auch auf der Hülle war nicht das geringste Zeichen. Nachdem er eine Weile nachgedacht hatte, was er tun sollte, und als die Neugier die Furcht vor etwas, das er nicht beschreiben konnte, besiegt hatte, behielt er die DVD in der Hand und stellte die Aktentasche hinter den Fahrersitz. Er ging zurück zum Büro und warf, bevor er es betrat, die DVD in die Satteltasche seines Fahrrads. Dann hängte er den Schlüssel an den Haken. Ülcan war in die Sportseiten der Milliyet vertieft.
Draußen stieg Matti aufs Rad. Dessen Sattel war zwar so weit wie möglich herausgezogen, doch fuhr er ein wenig breitbeinig aus der Ausfahrt. Am U-Bahnhof Boddinstraße kaufte er einen Sechserpack Astra-Pils für Twiggy. Von da waren es nur noch ein paar Minuten zur Okerstraße 34c, wo er seit vielen Jahren im vierten Stock in seiner WG lebte, fast direkt am Zaun des Tempelhofer Flughafens. Aber der lärmte nicht mehr, seit der Flugbetrieb eingestellt war. Die WG lag in einem der Berliner Nachkriegsmietshäuser, und sie war insoweit exotisch, als es in der Szene hieß, dass hier niemand wohne. Die Gegend war nicht angesagt, aber das juckte die Okerstraßen-WG nicht die Bohne.
Matti schob das Fahrrad durch den Gang in den Hinterhof und kettete es an den Fahrradständer. Dann nahm er den Sechserpack in die eine und die DVD in die andere Hand und stieg die Treppen hoch. Das Treppenhaus war seit einigen Jahrhunderten nicht renoviert worden, die grau-schwarz gesprenkelte Steintreppe war verdreckt, die Wände waren verschmiert mit mehr oder weniger obszönen Kritzeleien. Im zweiten Stock dröhnte eine Prolltalkshow, dem Geschrei nach zu urteilen. Im dritten Stock hörte Matti Nirwana, im vierten war es still. Er klemmte sich die DVD unter den Arm, an dem der Sechserpack hing, und schloss die Tür mit der eingelassenen Milchglasscheibe auf. Rechts im Flur eine Garderobe mit Haken, Buchenholzfurnier, die Matti gleich nach dem Einzug an die Wand gedübelt hatte. Die Haken waren doppelt und dreifach behängt mit Jacken und Mänteln. Vom langen Flur gingen seitlich die Zimmer von Dornröschen, Matti und Twiggy sowie das Badezimmer ab, die Tür zur Küche am Ende des Gangs stand offen. Es roch nach Zigarettenrauch und Knoblauch. Matti trug den Sechserpack in die Küche, riss ihn auf und stellte drei Flaschen in den alten Bosch-Kühlschrank, in dem diesmal genug Platz war, weil Twiggy noch nicht zurück war vom Einkaufen.
In der Mitte der Küche stand ein Tisch mit einer rot geblümten Wachsdecke, darauf wartete das Geschirr von Twiggys und Dornröschens Frühstück, abgewaschen zu werden. Ein eiliger Blick auf den Küchenplan bestätigte Matti, dass Dornröschen dran war. Von einem unter den Tisch geschobenen Stuhl hing schlaff der schwarz-weiße Schwanz von Robespierre hinunter, unter Freunden Robbi genannt, der gerade von Thunfischkatzenfutter träumte.
Matti füllte Kaffeemehl und Wasser in die Maschine und schaltete sie ein. Dann schaute er nach, ob genug Trockenfutter in Robbis Schälchen war und schüttete etwas nach. Das Geräusch ließ Robbis Schwanz eine Pirouette tanzen. Matti tauschte auch das Wasser aus, setzte sich an den Tisch, hörte der Kaffeemaschine beim Blubbern zu und blätterte in der taz. Als er wieder bei Puste war, ging er in sein Zimmer und schaltete den PC ein. Während der Computer hochfuhr, schaute Matti zum Fenster hinaus, das machte er immer, wenn er bei Tageslicht nach Hause kam. Auf dem Bürgersteig spielten Kinder. Eine Frau schob einen Kinderwagen, der mit Einkaufstaschen behängt war. Die Sonne verschwand grell hinter den Dächern. Er schaltete das Licht ein. An der Wand neben der Tür stand sein Bett, darauf eine Indiodecke, in deren Farbgemisch Rot überwog. An der gegenüberliegenden Wand die Leselampe mit dem biegbaren Hals und dem hellroten Schirm. In einer Ecke ein alter Sessel, den er auf dem Sperrmüll gefunden hatte und den sie alle drei unter Verfluchungen hinaufgeschleppt hatten. Als der PC die verstaubte Linux-Version geladen hatte, schob Matti die DVD ins Laufwerk. Sie startete von allein und öffnete ein kleines Fenster mit dem Titel Password. Scheiße, dachte Matti. Er zog die DVD wieder heraus, steckte sie zurück in die Plastikhülle und nahm sie mit in die Küche.
Robbi hatte ausgeschlafen. Er stand vor seinem Fressnapf und streckte sich. Dann warf er Matti einen Blick zu und maunzte.
"Was ist, Robbi?", fragte Matti.
Aber Robbi antwortete nicht. Er hielt sich streng an das Schweigegelübde, das er eines unseligen Tages still und heimlich abgelegt hatte.
Twiggy kam freitags meistens als Erster. Das metallische Klicken des Schlosses kündigte ihn an. Dann das Stapfen im Flur und das obligatorische Stöhnen, mit dem sich Twiggy über die Treppen hinwegtröstete. In beiden Händen je eine Plastiktüte, betrat er schwer die Küche. Twiggy lief nicht, er wabbelte auf Säulenbeinen. Er war groß und fett, trug einen Kugelkopf mit dicken Backen auf seinem mächtigen Körper, seine Haare waren zottelig, und sein Gesicht glänzte vom Schweiß. Seinen Namen verdankte er dem Zufall und der menschlichen Gemeinheit, einer nicht ungewöhnlichen Kombination also, die sich in bestimmten Augenblicken die falschen Opfer sucht und ihnen am Ende nur die Wahl lässt, sich mit ihrem Schicksal abzufinden, was Twiggy in seiner Weisheit tat, ohne zu zögern und zu klagen. Der Zufall war eine Sauferei nach heldenhaften Maikämpfen in Kreuzberg, und die menschliche Gemeinheit verkörperte sich in Gerhart mit T, der im Vollrausch genau in dem Moment über das britische Magermodell ablästerte, als Twiggy erschien und fortan so hieß. Danach hatte man von Gerhart mit T nichts mehr gehört, was nur bedeuten konnte, dass er seine historische Mission erfüllt hatte.
Twiggy trug einen riesigen Blaumann, darüber einen gelben Strickpullover mit rotem Brustring und riesige Turnschuhe, die ein Normalwüchsiger auch als Schwimmflossen hätte benutzen können. Er stellte die Plastiktüten vor dem Kühlschrank ab, nahm sich aus dem ehemals weißen Küchenschrank einen Becher und stellte eine Zuckerdose auf den Tisch. "Ich ziehe aus", schnaubte er, aber das sagte er seit Menschengedenken, um dennoch jeden Freitag wieder brav die Einkäufe für die WG zu erledigen. Nur das Bier holte er nicht, er bestand aus irgendeinem Grund darauf, dass Matti es besorgte. Twiggy setzte sich an den Tisch.
Matti schob ihm die DVD zu.
Twiggy musterte sie, ohne sie anzufassen. "Und?"
"Passwortgeschützt."
Twiggy hob die Augenbrauen und stöhnte leise. "Wo hast du die her?"
"Aus der Aktentasche von einem Fahrgast, hat der vergessen."
"Du spinnst doch", sagte Twiggy. Misstrauisch musterte er die Hülle mit seinen klugen schwarzen Augen.
Robbi scharwenzelte um Twiggys Beine herum. Dann stellte er sich auf die Hinterbeine, um die Krallen seiner Vorderpfoten in Twiggys Hose zu rammen. Der stöhnte auf, nahm den Kater endlich am Bauch und hievte ihn auf seinen Schoß. Robbi machte sich darauf breit und streckte Twiggy seine Unterseite entgegen. "Service please", knurrte Twiggy und begann den Fellbauch zu kraulen, was Robbi mit geschlossenen Augen laut und röchelnd schnurren ließ, als liefe in der Küche ein Zweitaktmotor mit Fehlzündungen.
Twiggy griff nach Mattis Tabak und drehte sich eine, was Robbi mit schmalen Augen beobachtete. Die schlossen sich erst wieder, nachdem Twiggy die Zigarette angezündet hatte und mit der freien Hand die Baucharbeit fortsetzte.
"Wir machen eine Kopie und packen das Original in die Tasche im Auto. Das merkt keiner." Matti drehte sich auch eine.
"Was ist darauf, ein Porno?", fragte Twiggy gelangweilt. Er tat immer gelangweilt, wenn ihn etwas zu interessieren begann.
"Keine Ahnung. Wahrscheinlich nur ein Scheiß. Aber der Typ hat mich schwer genervt."
Twiggy hob die Augenbrauen, schniefte und nahm einen Zug. "Nachher haben wir die Bullen am Hals."
"Quatsch." Matti stand auf, nahm die DVD und ging in sein Zimmer. Er brauchte wenige Minuten, um die DVD zu kopieren. Dann prüfte er, ob sich auf der Kopie das Passwortfenster öffnete, und als dies gelang, war er zufrieden. Er ging zurück in die Küche.
"Ihr kocht, und ich bringe das Original zurück, dann kann das keiner gemerkt haben. Ülcan passt sowieso nicht auf. Und die Spätschicht beginnt erst" – er blickte auf die Uhr – "gleich, Scheiße."
Er zog seine Jacke an und eilte die Treppe hinunter. Fast hätte er Dornröschen umgerannt, die im Halbdunkel die Treppe hinaufschlich. "Ich komme gleich wieder, Twiggy kocht mit dir, und dann wird es ernst. Zieh dich warm an. Kannst ja schon mal was ernten."
Dornröschen öffnete den Mund, sagte aber nichts, sondern schüttelte den Kopf und schlich weiter nach oben. Doch dann rief sie hinunter: "Ihr habt wieder das Küchenlicht angelassen gestern Nacht. Wir dürfen dem Scheißstrommonopolisten nichts schenken, wann begreift ihr das endlich?"
Matti hörte es gerade noch, dann schwang er sich aufs Rad, trampelte im Eiltempo zur Taxigarage und kam verschwitzt dort an. Er ging ins Büro, Ülcan blätterte in Papieren herum und schaute ihn fragend an.
"Hab was vergessen", sagte Matti, nahm den Schlüssel vom Brett, ging hinaus zum Wagen, steckte die DVD in die Aktentasche, öffnete zur Ablenkung den Kofferraum, nahm seine wärmere Reservejacke heraus, zog sie über die Jacke, die er trug, und kehrte zurück ins Büro, um den Schlüssel aufzuhängen, was Ülcan mit einem leeren Blick registrierte, um sich dann wieder seinem Papierkram zu widmen. Als Matti aufs Fahrrad stieg, kam gerade Aldi-Klaus mit seinem Ziegenbart angetrabt, um die Nachtschicht anzutreten.

Als Matti die Wohnungstür aufschloss, hörte er die Musik und roch das Abendessen. Freitagabends aßen sie zusammen Ravioli à la Dornröschen, damit hatten sie während des Studiums angefangen, und es konnte keinen Zweifel geben, dass sie diese Tradition bis zu ihrem Ableben oder dem Weltuntergang fortsetzen würden, je nachdem, was zuerst eintrat. Twiggy hatte wie immer die beiden Dosen geöffnet. Dornröschen trug wie fast immer ein dunkelrotes Seidenkleid, die Haare rot gefärbt, die Originalfarbe war längst in Vergessenheit geraten, auf der Nase eine leichte silbrige Brille mit runden Gläsern, in der einen Hand ein Glas Sherry extra dry, in der anderen den Kochlöffel, mit dem sie die Tiefkühlkostkräuter in der Raviolisoße verrührte. Im Gettoblaster auf dem Küchenschrank flüsterte, rief oder weinte der Wind Mary,((unverständlich?)) je nach Stimmung. Matti entschied sich fürs Rufen und goss sich ein Glas italienischen Rotwein ein, den Twiggy besorgt hatte.
"Brauchen wir eine Espressomaschine?", fragte Twiggy. Er saß mit einer Flasche Bier am gedeckten Tisch.
Dornröschen und Matti schauten sich kurz an, Dornröschens grüne Augen schimmerten freudig. "Klar", sagte Matti. "Können wir uns das leisten?"
Twiggy nickte, und Dornröschen strahlte ((warum strahlt sie, ist doch Teetrinkerin)).
Twiggy hatte viele Freunde, wie er gern andeutete, und es kamen immer neue dazu, die erstaunliche Fähigkeiten besaßen oder Quellen kannten, von denen man Dinge beziehen konnte, die sonst teuer oder gar nicht zu haben waren. Matti hatte noch nie einen von Twiggys Kumpels gesehen. Eine Zeit lang hatte Twiggy mit Software gehandelt, bis es ihm zu heiß wurde. Dann vertrieb er DVDs, später Restposten französischer oder italienischer Weine, Feinschmeckerspezialitäten in Dosen oder Sanitärware aus Taiwan. Der Gettoblaster auf dem Küchenschrank stammte von einem Deal, genauso die Computer der drei WG-Bewohner, der Staubsauger und die Kaffeemaschine. Oft verschwand Twiggy für eine Nacht oder auch länger. Keiner fragte ihn, wohin, nachdem er einmal laut geworden war und sich jede Neugier verbeten hatte. Niemand hatte seitdem Twiggy noch mal schreien gehört, umso wirksamer war der Nachhall. Matti und Dornröschen hatten keine Ahnung, was Twiggy derzeit trieb auf seinen nächtlichen Ausflügen.
Dornröschen hörte plötzlich auf zu rühren, der Kochlöffel blieb im Topf stecken, als hätte man eine Küchenmaschine plötzlich ausgeschaltet. Ihr blasses Gesicht wurde noch blasser, ihre Augen weiteten sich, ihre glatte Stirn zeigte Falten und ihre Hand wanderte zum Unterleib. Sie begann zu tasten, während sie die anderen anstarrte. Matti stand auf. Er übernahm das Rühren, während Dornröschen zur Seite glitt. Ihre vom Kochlöffel befreite Hand bedeckte den schmalen Mund mit den dünnen Lippen. Dann setzte sie sich auf Mattis Küchenstuhl und stützte das Gesicht in die Hände. Robbi maunzte.
"Ich habe Krebs", hauchte sie.
Twiggy setzte Robbi auf den Boden, erhob sich, öffnete den Kühlschrank, holte die Flasche Doppelkorn aus dem Tiefkühlfach, nahm ein Wasserglas aus dem Schrank und goss es halb voll. Er stellte es vor Dornröschen, etwas schwappte auf die Tischplatte. "Trink das!" Dornröschen nippte, dann stellte sie das Glas weg. Matti, der sich zum Tisch gewandt hatte, nahm das Glas, trank auch einen Schluck und kippte den Rest in die Spüle. Dann tippte er sich an die Stirn. Twiggy schnaubte, sagte aber nichts.
"Es geht wieder", sagte Dornröschen. "Ich will ja tapfer sein."
"Das bist du doch auch", sagte Matti.
Twiggy schnaubte. "Du hast seit mindestens zwanzig Jahren Krebs", murrte er. "Und zwar alle Sorten, die es gibt. Du bist der einzige Mensch, der so was überleben kann."
Dornröschen stand auf und stellte sich neben Matti. Sie streichelte ihm kurz den Oberarm, dann nahm sie ihm den Kochlöffel weg. "Das ist jetzt fertig." Sie klang maulig.
Matti stellte den Topf auf den Untersetzer auf dem Tisch, goss sich Rotwein nach und setzte sich.
Als auch Dornröschen am Tisch saß, erstarrten sie plötzlich, legten die Hände auf den Tisch und schwiegen. Robbi strich an Twiggys Unterschenkeln entlang. "Für Meher Baba" , sagte Dornröschen. Sie schwiegen ein paar Sekunden für den indischen Guru, der durch sein Schweigegelübde berühmt geworden war, dann teilte Dornröschen mit einer Kelle das Essen aus.
"Wie war's auf der Arbeit?", fragte Matti.
Dornröschen zuckte mit den Achseln. "Wie immer. Noch sind wir nicht pleite."
"Diese Stadtteilzeitungen gehen nicht pleite", sagte Twiggy. "Aber wenn doch, fragt mich, ich organisier euch eine Unternehmensberatung."
"Von der Chinesenmafia?", fragte Matti, und Dornröschen kicherte. Dann gähnte sie. Sie war der Junge für alles bei der Stadtteilzeitung in der Ecke Hermannstraße/Kranoldstraße, schrieb Artikel, recherchierte, akquirierte Anzeigen und war, obwohl es das natürlich nicht gab, auch die Chefredakteurin. Wenn Dornröschen einmal im Jahr ihre Grippe nahm, brach in dem Laden die Panik aus.
Twiggy schnaubte und schob sich einen Löffel Ravioli in den Mund. "Ich zahl's euch nachher heim", sagte er kauend.
Dornröschen wurde grundsätzlich. "Ihr habt keine Chance, hattet ihr nie, werdet ihr nie haben."
Twiggy schaute traurig über den Tisch. Sie hatte ja recht. "Matti hat 'ne DVD geklaut", sagte er so nebenbei.
"Toll." Dornröschen lachte . "Und was ist drauf?"
"Passwortgeschützt", sagte Twiggy.
"Noch spannender." Dornröschen musste gähnen. "Dann an die Arbeit, Genosse."
Twiggy schob sich einen Löffel in den Mund. "Ich lass den Zerberus auf das Scheißding los, der wird es knacken, und wenn es Wochen dauert." Seine Stimme klang heroisch. Er erhob sich, wobei er sich mit den Händen auf der Tischplatte abstützte, und schlurfte zu seinem Zimmer. Matti räumte den Tisch ab, Dornröschen gähnte, lehnte sich nach hinten und schloss die Augen. Da Twiggy noch nicht zurück war, begann Matti mit dem Abwasch, aber er unterbrach ihn gleich, um Dornröschen anzutippen. Sie zuckte, blinzelte, rieb sich die Augen und sah Matti erschreckt an.
"Du musst noch was ernten", sagte der.
Dornröschen nickte müde, blinzelte noch einmal, stand auf und verschwand im Flur. Er hörte ihre Zimmertür klappen.
Matti wusch weiter ab und überlegte sich, ob sie bei Twiggy einen Geschirrspüler bestellen sollten. Das überlegte er immer, wenn ihn die Pflicht traf oder er nach Hause kam und die Küche versifft war, weil Twiggy oder Dornröschen mal wieder den Abwaschplan an der Küchentür souverän missachtet hatten.
Dornröschen kehrte zurück mit einem großen Joint, den sie mit Tabak und der Ernte von ihrem Balkon gefüllt hatte. Auch das gab es nur freitags, es war die Zuteilung. Doping für den Wettkampf.
Twiggy kehrte auch zurück. Er sah zufrieden aus. "Der Knecht rechnet", grinste er, "mal sehen, wie lang er braucht."
Matti überlegte, wie es wäre, wenn Lily dabei wäre. "Wisst ihr, wen ich getroffen habe?"
Die beiden guckten ihn neugierig an, Dornröschen blinzelte.
"Lily!"
Schweigen.
"Das ist ja ein Ding", sagte Twiggy schließlich. Dann: "Und?" Ein erwartungsvoller Blick.
Matti zuckte mit den Achseln.
"Ach komm", sagte Twiggy.
"Wie sieht sie denn aus?", fragte Dornröschen, die mit dem Joint herumspielte.
"Toll", erwiderte Matti leise. "Wirklich toll."
"Tja", sagte Twiggy. Er holte sich eine Bierflasche aus dem Kühlschrank und öffnete sie mit den Zähnen.
"Igitt!", rief Dornröschen.
Twiggy setzte sich an den Tisch und trank aus der Flasche.
"Und triffst du sie wieder?", fragte Dornröschen mit einem Augenaufschlag.
"Weiß nicht."
"Hast du ihre Telefonnummer?"
Matti nickte. Er hatte wieder diese Bilder im Kopf. Wie er morgens aufwachte und Lily noch schlief, das Gesicht ihm halb zugewandt, so friedlich. Und wie sie allmählich die Augen öffnete, ihn sah und lächelte. So konnte sie auch sein. Vielleicht war sie so, Matti glaubte es jedenfalls, und alles andere war nur Theater, weil sie sich selbst nicht aushielt, wenn sie friedlich war. Was ging in ihrem Schädel vor? Er hatte Lily nie verstanden, und er hatte es wirklich versucht. Er wusste von Anfang an, er würde sie verlieren, wenn er sie nicht verstand. Jetzt erinnerte er sich gut seiner Angst, die von Anfang an dabei gewesen war.
"Dann ruf sie an", sagte Dornröschen. "Aber zieh nicht wieder aus wegen ihr." Sie gähnte.
"Sie ist in so 'ner Kapitalistenkanzlei am Kudamm. Rechtsverdreherin." Matti trocknete sich mit dem Geschirrtuch die Hände und setzte sich an den Tisch.
"Ach du Scheiße!", sagte Twiggy. "Und die hat sich damals von niemandem links überholen lassen. Lily, ich lach mich schlapp. Dornröschen, weißt du noch, wie die in den Kampf zog gegen die Bullen? In der rechten Vorderflosse einen Molli, in der linken eine rote Fahne …"
"Von links unten nach rechts oben", sagte Dornröschen spitz. "Aber da gibt es prominentere Beispiele. Man nennt das heutzutage eine interessante Biografie." Sie wandte sich an Matti. "Warum sagst du nichts? Du weißt doch sonst immer alles besser."
"Ich weiß gar nichts", sagte Matti.
"Es hat ihn wieder gepackt!" Twiggy grinste dreckig. "Kannst ja mal einen Besuch am Kudamm machen. Frau Rechtsanwältin besuchen im Marmorpalast der Paragrafenknechte. Ach, wie romantisch." Er lachte.
Matti zeigte ihm den Mittelfinger.
Dornröschen zündete den Joint an, ein süßlicher Geruch legte sich über den Tabakqualm. Sie zog kräftig, der Joint glühte, sie hielt den Rauch lange in der Lunge. Dann blies sie langsam den Qualm aus und gab die Riesenzigarette an Twiggy weiter. Der zog einmal kräftig und reichte sie Matti. Der zögerte, weil ihm ein Bild aufschien, das Lily beim Haschen zeigte, dann nahm er auch einen Zug. Twiggy zog die Tischschublade auf und holte das Kartenspiel heraus. Er schloss die Schublade und legte es auf den Tisch.
"Wer gibt?", fragte er wie immer.
"Der, der so blöd fragt", erwiderte Dornröschen wie immer. Twiggy mischte, ließ Matti abheben und teilte aus.
Und Matti fiel ein, wie Lily ihn einmal in der WG in der Sonnenallee besucht hatte, und sie alle – war Twiggy da schon dabei? Ja, war er, aber auch Udo und Katharina. Wo waren die geblieben? – Canasta gespielt hatten. Damals hatte, was sonst, Dornröschen sie alle abgezockt, im Halbschlaf. Und Lily war ein wenig beleidigt gewesen. Nur kurz, aber unübersehbar maulig. Sie hatten in den Jahren danach, als Twiggy, Matti und Dornröschen übrig geblieben waren, versucht ein Spiel zu finden, das ihre intellektuellen Fähigkeiten ausreizte und in dem trotzdem nicht immer Dornröschen gewann. Sie hatten es mit Skat versucht, aber Dornröschen gewann locker auch ein Grand ohne vier, beim Doppelkopf hatte sie ein Abo auf die Herz-Zehnen und die beiden Kreuzdamen, und beim Canasta zog sie grundsätzlich, was sie brauchte, um schnurstracks abzulegen. Und dabei gähnte sie fortwährend, was die anderen in ihrem Elend als übelste Provokation empfanden. Beim Mau-Mau schließlich hatte vor einigen Jahren, in irgendeinem Kalender hatte Twiggy es eingetragen, Matti mal die Fünferrunde, wie sie ihr System fälschlich nannten, gewonnen, und seitdem waren er und Twiggy überzeugt, dass sie Dornröschen irgendwann doch noch fertigmachen würden. Rein statistisch gesehen.
Dornröschen sortierte ihre Karten sorgfältig in einem Fächer. Die anderen beiden brauchten dazu nicht so lang. Twiggy deckte die erste Karte des Stapels auf, es war eine Pik-Sieben, und Matti musste zwei Karten ziehen und aussetzen. Dornröschen legte eine Pik-Acht auf den Stapel, und Twiggy setzte aus. Matti fand keine passende Karte, sondern zog eine. Dornröschen zog ebenfalls eine Karte und steckte sie in den Fächer, um eine andere herauszuholen, ein Pik-As. Twiggy musste wieder aussetzen, er schnaubte, Schweißperlen traten auf seine Stirn. Dornröschen blieb ungerührt.
Es dauerte keine halbe Stunde, bis sie drei Spiele hintereinander gewonnen hatte. Manchmal kam es vor, dass Matti oder Twiggy als Erste ablegen konnten, doch am Ende hatte Dornröschen immer zuerst die drei Spiele in der Tasche, abgesehen von dem einen großen Tag, wie die beiden Männer ihn nannten, was Dornröschen aber souverän überhörte.
Twiggy war sauer und trank eine Flasche Bier in einem Zug leer. Matti war sauer und trank ein Glas Rotwein in einem Zug leer. Dornröschen lächelte fein, fast schien es, als wollte sie sich entschuldigen, aber wer sie kannte, wusste, dass ihr nichts ferner lag als das.
"Ich guck mal nach dem Rechenknecht", sagte Twiggy. Er zog ab in sein Zimmer. Robbi sprang auf den frei gewordenen Stuhl, legte seine schwarz-weißen Pfoten auf die Tischkante und beäugte das Schlachtfeld. Er maunzte einmal und kringelte sich auf den Stuhl, rund wie ein Wagenrad. Der Schwanz fiel über den Rand, die Spitze dirigierte ein Orchester, ein Adagio ma non troppo.
Es dauerte eine Weile, bis Twiggy zurückkam. "Noch nichts", sagte er. "Ich habe jetzt auch den Zweitrechner darauf angesetzt, da versuch ich es mit rainbow tables, ist vielleicht schneller."
Matti verzog sein Gesicht, Dornröschens Mimik zeigte nichts, und Twiggy erklärte in einem Tonfall, der jede Hoffnung auf Verständnis vermissen ließ: "Das ist besser als brute force, meistens jedenfalls." Dann nahm er Robbi vom Stuhl, setzte sich und legte sich den Kater auf den Schoß. Er zeigte mit dem Finger auf den Kater, zuckte mit den Achseln, zauberte Verzweiflung in sein Gesicht und deutete auf den Kühlschrank. Matti stand auf und holte das Bier.
Dornröschen gähnte. "Ich geh jetzt ins Bett", sagte sie. Sie stand auf und schlich zu ihrem Zimmer.
"Warum dauert das so lang mit der Entschlüsselung?", fragte Matti.
"Weil da jemand ein saugutes Passwort gewählt hat."
"Und warum?"
"Weil er was verbergen will. Warum sonst?"
"Saugutes Passwort, weil es was Sauwichtiges ist?"
"Was weiß ich?"
Robbi warf den Zweitakter an, seine Vorderpfoten bearbeiten im Milchtritt Twiggys Oberschenkel, aber der schien die Krallen nicht zu spüren. Er kraulte den Kater hinterm Ohr und trank einen Schluck.
"Warum gewinnt die immer?", fragte er.
Matti goss sich noch einen Schluck Rotwein ein. "Weil sie schlauer ist als wir drei zusammen."
"Das weiß ich schon lange, nur seit wann hat Mau-Mau was mit Schläue zu tun?"
"Seit Dornröschen es spielt."
Matti grinste. Dornröschen war einzigartig, das wusste er von Anfang an, als sie eines Tages vor ewiger Zeit in der Küchentür stand, wo er mit Twiggy gerade Tee trank. "Ich bin die, die vorhin angerufen hat wegen des freien Zimmers." Sie hatte geschnieft und ausgiebig gegähnt. Sie schien immerzu zu dösen oder mindestens müde zu sein, aber ihr Verstand arbeitete schnell und genau, und ihrem manchmal geradezu trüben Blick entging nichts. Sie war dünn und höchstens mittelgroß, hatte ein fast knochiges, aber doch attraktives Gesicht, vor allem wegen ihrer großen müden Augen. Würde sie schicke Kleidung tragen und ein wenig Make-up auflegen, würde mancher Mann sich nach ihr umdrehen. Aber so verhuscht, wie sie zu sein schien, fiel sie niemandem auf. Was aber am erstaunlichsten an ihr war, das war dieser unerschütterliche Gleichmut. Wenn Matti und Twiggy sich tierisch über etwas aufregten, blieb sie fast provozierend ruhig und fand schneller eine Lösung, als die anderen gedacht hatten, dass sie vielleicht eine brauchten. Dornröschen, dachte Matti mit weichem Herz, sie war die Chefin ihrer WG, auch wenn sie es nicht sein wollte. Aus dem Bad kam ein Klappern. Sie war penibel in ihrer Abend- und ihrer Morgentoilette.
Twiggy schaute in die Richtung des Badezimmers und lächelte. Vielleicht hatte er gerade das Gleiche gedacht wie Matti. Twiggy legte Robbi an seine Brust und stand auf, winkte knapp und schlurfte in sein Zimmer. Dort würde er den Röhrenfernseher einschalten, auf dem meistens Al Jazeera lief oder Splattervideos, wenn Twiggy schlecht gelaunt war. Er würde sich aufs Bett liegen, Robbi daneben, und sie würden sich die alten Männer mit den Bärten anschauen, die sich über irgendwas erregten, und die schwarzhaarigen Moderatorinnen, die Twiggy so gefielen, und die Aufmärsche der Turbanträger. Und dann würden sie irgendwann einschlafen, während die Rechenknechte arbeiteten wie die Blöden.
Matti las in der Nacht mit schwindligem Kopf noch ein paar Seiten im gelben Bändchen. Er stieß auf den Satz "Das Leben an einem Ort ist erst dann schön, wenn die Menschen ein gutes Verhältnis zueinander haben". Er las ihn ein paar Mal und schlief lächelnd ein. In der Nacht träumte er von Lily.