Das Buch

 

 

 Kontakt
 Christian v. Ditfurth
 Wrangelstr. 91
 10997 Berlin
 Tel.: (030) 65006136
 Fax: (030) 96601198
 E-Mail

Aus Rezensionen

"Gott sei Dank nur ein Alptraum. Aber was für einer!"
Der Spiegel

"Ditfurth, who is a historian, unwinds his story slowly and methodically, hinting at glimmers of the whole puzzle in every chapter, until all is revealed in the novel's final pages. Other Stachelmann translations are on their way to North America and England; fans of Ruth Rendell should welcome Ditfurth's quiet, authoritative voice."
The Washington Post

"Eine atemberaubende Lektüre."
Die Zeit

"It was a pleasant surprise to encounter a thriller so thoughtful and funny − and even, occasionally, profound."
Haaretz

"Ein extrem spannender, toll erzählter historischer Polit-Krimi aus einer Zeit, die es so nie gab. Faszinierend."
Brigitte

"Nichts ist, wie es scheint - Ditfurth treibt eine geistreiche Spielerei mit teils historischen, teils erfundenen Figuren. Er verdichtet ein faszinierendes Konstrukt aus Fakten und Phantasie zu einem spannenden Thriller, der mit einem überraschenden Knalleffekt endet."
Spiegel special

"German historian Ditfurth's fictional alter ego, Josef Stachelmann, makes an engaging protagonist in this well-crafted crime thriller, the first in a new series. (...) The author sensitively handles the difficult issue of how modern Germany has dealt with its past."
Publishers Weekly

"Alles dran. Das Setting steht. Wünscht man sich also noch mehr Fälle für Josef Maria Stachelmann."
Die Welt

"Ein packender Krimi, der zeigt, dass deutsche Autoren mit deutschen Themen bestens gegen internationale Konkurrenz bestehen können."
Focus

"Christian von Ditfurths Bücher sind ausgesprochen gut recherchiert, unterhaltsam geschrieben und – bei Krimis nicht unwichtig – sie sind spannend."
NDR Info

"Ditfurth wollte einen Thriller schreiben, der historisch Interessierten zusätzlich ein reizvolles Denkspiel bietet. Beides ist ihm gelungen."
Capital

"Ein atemberaubendes Szenario, mit sicherer Hand ausgeführt."
Facts

"Des personnages très réussis et le portrait fidèle d’une Allemagne toujours en proie aux démons du passé."
Le Monde

"A tense thriller, deeply rooted in Nazi history."
Kirkus Reviews

Probekapitel

 

1

Er genoss diesen Blick auf die Spree und hinüber zum Charlottenburger Schloss seit vielen Jahren. Das Wasser am Bonhoefferufer schimmerte heute grün. Am Himmel zogen dunkle Wolken gemächlich nach Westen. Es hatte viel geregnet in den letzten Tagen, der Herbst hatte sich sonnig angekündigt, als wollte er die Menschen täuschen über seinen Charakter, und dann war er umgeschlagen und brachte Kälte, Regen und Wind, wie es sich gehörte.
Heinrich Walzer stand an der Fensterfront seines großzügigen Büros, wie immer perfekt gekleidet, dunkelgrauer Anzug eines italienischen Edelschneiders, an den Füßen schwarze Maßschuhe aus der Züricher Bahnhofstraße, ein dezent roter Schlips auf hellblauem Hemd, der obere Knopf geschlossen. Walzer wippte auf den Fußballen und straffte seinen Körper. Er hatte ein narbiges Gesicht, späte Spuren einer schweren Akne, eine breite Nase, kurz geschnittene schwarze Haare, darin verwoben graue Fäden. Seine graublauen Augen strahlten Vertrauenswürdigkeit aus. Die meisten beschrieben ihn als einen sympathischen Mann. Und in der Tat war er ein ruhiger Zeitgenosse, zu dessen wichtigsten Eigenschaften es gehörte, dass er zuhören konnte, was seine natürliche Autorität nur unterstrich.
Auf seinem Schreibtisch, Rauchglas auf einem Stahlgestell, links und rechts Stahlcontainer auf Rollen, stand ein zierlicher Bilderrahmen, eine schöne Frau mit langen schwarzen Haaren und zwei hübsche Kinder, lachend.
Er schaute auf die Speedmaster, die er am Stahlarmband trug. In diesem Augenblick klopfte es an der Tür, und sie öffnete sich, ohne dass Walzer etwas gesagt hatte. Herein trat ein mittelgroßer Mann, etwas untersetzt, nervöses Gesicht.
»Karl, schön, dass Sie gekommen sind. Bitte.« Walzer hatte eine tiefe Stimme, ohne dass sie dröhnte. Er deutete auf die Sitzecke und ging dorthin.
Der andere, brauner Anzug, braune Haare, braune Schuhe, unscheinbar, kannte sich aus in dem Büro, und er bewegte sich selbstverständlich darin. Sein Nachname war Ammann, ein promovierter Jurist.
Als beide saßen, kam eine Frau herein, in der Hand ein Tablett. Ein Glas mit Wasser, eine Tasse Tee. Die Frau nickte Ammann zu, der nickte zurück, ohne sie wirklich anzuschauen. Sie war zurückhaltend geschminkt und sonst seltsam grau.
»Ich habe den Vierteljahresbericht gelesen«, sagte Walzer freundlich. »Er ist wie immer ein Meisterwerk der Präzision.« Er zog zwei silbrig glänzende Kugeln aus der Jacketttasche und ließ sie zwischen den Fingern einer Hand wandern, ruhig, fast meditativ.
Der andere verzog keine Miene.
»Die Bildungsprogramme laufen, wie wir es uns vorgestellt hatten. Die meisten Beteiligungen werfen Gewinne ab trotz der Krise. Wir konnten die Zahl unserer Stipendien erhöhen. Es ist eigentlich alles in Ordnung, so, wie im Prinzip seit Ihrem Amtsantritt immer alles in Ordnung war.« Er machte eine kurze Pause. »Vielen Dank, Herr Generalsekretär.« Die Stimme klang jetzt ein bisschen offiziell.
»Ich habe zu danken, Herr Präsident.«
Walzer lächelte, er tat dies sehr einnehmend. »Ein Ärgernis allerdings bleibt. Wir hatten im Vorstand beschlossen, diese Sache der operativen Abteilung zu übertragen. Wie gut, dass sie noch besteht. Sie erinnern sich, da gab es ja Versuche …«
Ammann rutschte ein bisschen hin und her, trank einen Schluck Tee und nickte fast versonnen. »Ich glaube, wir müssen uns keine Sorgen machen. Es ist alles vorbereitet.«
Walzer lächelte.
»Wie gut, dass wir immer mit so etwas gerechnet hatten.«
»Wie gut, dass Sie mit so etwas gerechnet hatten«, sagte Ammann sachlich. Es war die Wahrheit, nicht mehr und nicht weniger. Nie hatte die Akademie einen besseren Präsidenten gehabt. Ammann erinnerte sich gut an die große Schlacht, wie er sie nannte, als die Fraktionen in der Akademie aufeinandergeprallt waren wie die Streitwagen antiker Heere und keine Zukunft wartete, am Himmel nicht und sonst auch nirgendwo. Bis Walzer, der Neue, zum richtigen Zeitpunkt, eine Minute früher oder später wäre verheerend gewesen, ihnen allen den Weg wies, auch wenn manche ein, zwei Jahre brauchten, um zu begreifen, wohin es ging.
Aber das war graue Vorzeit.

***

»Sie sind doch Herr Stachelmann?«, flüsterte es.
Da stand ein kleiner, dürrer Mann mit einem Knochenschädel vor ihm, auf der erstaunlich großen Nase eine Hornbrille mit dicken, fast milchigen Gläsern. Stachelmann überlegte fieberhaft, wer es sein könnte. Ja, er hatte ihn schon mal gesehen, sie hatten sogar miteinander gesprochen. Irgendwo, irgendwann. Stachelmann erhob sich und reichte dem Mann die Hand. Dessen Händedruck war schwach, und er zog seine Hand schnell zurück, als hätte er Angst, sie zu verlieren.
»Rehmer mein Name, Sie« – ein unruhiger Blick, dann zog er Stachelmann ungeduldig am Ellbogen aus dem Lesesaal – »werden sich vielleicht nicht mehr erinnern. Wir haben uns vor Jahren hier getroffen und auch auf diesem Kongress … was war das nochmal für einer? Ach, da, wo Bohming, das war doch Ihr Chef, diese Rede hielt … Funktionalismus, Intentionalismus, Zivilisationsbruch – historische Interpretationen des Nationalsozialismus. « Er referierte es eintönig. Die Glastür schloss sich automatisch, und sie standen im Flur. An den Wänden Schaukästen, rechts neben dem Zugang zur Treppe, die zu den Mitarbeiterbüros führte, das Telefon mit der Nummernliste.
Von draußen kam ein junger Mann herein, offenbar ein Student. Während er vorbeieilte, um dann nach rechts in den Gang abzubiegen, zog er eine unsichtbare Wolke aus Zigarettenrauch hinter sich her.
»Ich habe gehört, Sie haben die Universität verlassen … man hat ja einiges gehört über Hamburg, diese … Geschichte mit Bohming.«
»Ja, ja«, erwiderte Stachelmann und hoffte, der andere hörte heraus, dass ihn dessen Neugier nervte. Und außerdem erinnerte er sich an Bohmings Anmaßung, der seine Assistenten immer ausgenutzt hatte, auch für diesen aufgeblasenen Vortrag. »Das ist ja schon eine Weile her, und ich weiß von den näheren Umständen wenig bis nichts.«
»Ach, wirklich?« Rehmer legte seine Stirn in Falten und schaute Stachelmann mit leicht zur Seite geneigtem Kopf in die Augen.
»Ich war … praktisch schon weg, als das mit Bohming passierte«, log Stachelmann.
»Jedenfalls die Rede, die er hier gehalten hat, die war doch ein bisschen prätentiös. Finden Sie nicht auch?«
Stachelmann hätte jetzt erwidern können, dass Bohming seinen Spitznamen der Sagenhafte nicht zuletzt der Tatsache verdankte, dass er ein Angeber war, eitel, opportunistisch, großkotzig. Aber er sagte: »Daran kann ich mich gar nicht mehr erinnern.«
»Dann habe ich mich heute Morgen doch nicht getäuscht «, sagte Rehmer. »Inwiefern?«
»Ich habe Sie im Frühstücksraum erkannt, im Morgenland. Ich übernachte nämlich auch dort.« Stachelmanns Handy vibrierte in der Hosentasche. Gottseidank. Er zog es heraus. »Einen Augenblick, bitte.«
»Ich muss jetzt sowieso los.« Das Handy vibrierte weiter. »Gehen wir doch heute Abend zu dem Italiener.« Er zeigte in Richtung Finckensteinallee. Stachelmann wurde nervös, und er nickte, während er das Gespräch annahm. »Um acht Uhr! Okay?«, rief Rehmer. »Bis dann!«
»Hallo, Schatz!«
»Hallo, Kleine, wie geht’s?«
»Du fehlst mir«, sagte Valentina mit diesem leicht leidenden Unterton, den sie sich vor einiger Zeit zugelegt hatte. »Wann kommst du?«
»In spätestens einer Woche.«
»Puh!«
»Lass mich die Sache fertigmachen, sofern da etwas fertig zu machen ist. Und dann komme ich.«
Warum musste er sich eine Freundin aussuchen, die in Gotha wohnte und Lehrerin war, also festen Arbeitszeiten folgen musste? Er erinnerte sich daran, wie sie eines Tages mit ihrer Reisetasche vor seiner Tür gestanden hatte. Es berührte ihn immer noch.
»Warum ziehst du nicht hierher?«
Wie oft hatten sie darüber schon gesprochen? Fast hätten sie sich einmal gestritten, doch Stachelmann hatte es noch abbiegen können, hatte wachsweiche Erklärungen vorgetragen, in denen die Möglichkeit eines Umzugs nicht völlig ausgeschlossen schien.
»Warum lässt du dich nicht nach Hamburg versetzen?«
»Das habe ich schon tausend Mal gesagt. Weil ich da keinen kenne. Weil ich hier so tolle Kollegen habe. Weil man ein Thüringer Mädchen nicht in den kalten und menschenfeindlichen Norden versetzen kann, wo es statt Wurst und Knödeln eklige Krabben gibt, und das schon zum Frühstück.« Sie lachte, blitzschnell war ihre Stimmung umgeschlagen. So war sie. Das hatte er lernen müssen. Er lernte es immer noch. Manchmal gestand er sich ein, dass es ihm ungeheuer schwerfiel, sich auf andere Menschen einzulassen, sich auf das Ungewohnte einzustellen, das er zunächst so reizvoll fand. Da war doch immer eine Kluft zwischen ihm und den anderen, und er konnte sie so wenig überschreiten, wie er es zuließ, dass sie überschritten würde. Das Verrückte war, dass er diese Kluft kannte, dass sie ihn oft störte, ihn hilflos und einsam machte, und dass sie trotzdem blieb. Du bist der einzige Mensch, den ich kenne, der es schafft, in einer Menge allein zu bleiben. Dieser Satz hatte sich ihm eingeprägt. Er stammte von Anne, und natürlich hatte sie recht. Wie immer.
»Bist du noch dran?«
»Ja, natürlich.« Wehmut überkam ihn, wie immer, wenn er an Anne dachte. Er würde sie nie loswerden. Das war eines der wenigen Dinge, an denen er nicht zweifelte.
»Also, dann bleibt es dabei«, sagte sie, etwas übertrieben fröhlich.
»Natürlich.«
Er ging zurück an seinen Platz im Lesesaal des Bundesarchivs, zu den Akten, die ihn überzeugten, dass er Carl Rosenzweig kaum helfen konnte, das ihm von den Nazis geraubte Vermögen zu verschaffen. Die Textilfabriken seiner Familie und die dazugehörigen Ladenlokale in Berlin und Potsdam waren 1939 arisiert worden, und nach dem Krieg erklärten die Sowjetischen Besatzungsbehörden und später die DDR-Regierung, sie dürften den Kapitalismus nicht wiedererstehen lassen, und das Bundesamt für offene Vermögensfragen fand die Aktenlage bisher zu dünn, diese Entscheidung aufzuheben. Offenbar waren Dokumente in den Bombennächten verbrannt oder später beiseite geschafft worden oder beides. Längst hatte ein Westdeutscher die Fabrik billig von der Treuhand gekauft, und die Nachkommen des Eigentümers in Tel Aviv gingen leer aus. Darauf lief es hinaus, wenn Stachelmann nicht noch das große Los fand. Er glaubte es nicht. Ein Historiker bekommt ein Gefühl für die Aktenkonvolute, die er studiert, und er ahnt, was er bestenfalls finden könnte, und das war in diesem Fall nicht gut genug. Und doch würde er weiter Seite um Seite querlesen. Der Kunde hatte einen Anspruch darauf.
Die Tür zum Lesesaal öffnete sich, herein trat eine schlanke junge Frau mit halb langen gelockten hellbraunen Haaren. Sie lächelte ihn an, er lächelte zurück und hob lässig die Hand zum Gruß. Esther arbeitete im Kopierraum, er kannte sie lange, und er genoss so etwas wie eine geheime Vorzugsbehandlung, wenn es darum ging, schnell Kopien von Dokumenten zu erhalten. »Ich habe wieder was für dich.« Also wieder Kopien, die nur dazu dienten nachzuweisen, dass er nicht faul war. »Morgen Vormittag im Kopierraum. Ja?«

***

Walzer wohnte in einer Villa am Wannsee, die einmal einem Weimarer Industriellen und von 1938 bis 1945 einem Schauspieler gehört hatte, der zu Goebbels Lieblingen zählte, dessen Vorzugsbehandlung aber nach 1945 erstaunlicherweise vergaß. Als er die Villa mit Seeblick vor gut fünf Jahren erwarb, hörte sich Walzer die Geschichte der Vorbesitzer eher gelangweilt an, nahm sie aber zum Anlass zu prüfen, ob die Überweisungen der Akademie an Gedenkeinrichtungen für NS-Opfer weiterhin wie beschlossen getätigt wurden. Das gehörte zu dem, was man in der Akademie das Wohlfahrtsprogramm nannte und dessen beeindruckende Mittel Bedürftigen, Verfolgten, Dritte-Welt-Projekten und eben NS-Opfern zugutekamen. Eine so vermögende Einrichtung wie die Akademie musste sich sozial engagieren, und Walzer verachtete die reichen Pinkel, die Millionen erbten, um sie zu verprassen, er verachtete nicht weniger die schwäbischen Unternehmer, die die Welt nur als Absatzmarkt kannten und nicht einen Hauch Verantwortung für deren traurigen Zustand spürten.
Der Präsident bremste den schwarzen Volvo, der gerade die Hälfte der Luxusklasse mit Ringen, Stern oder Niere gekostet hatte, vor dem Tor, betätigte den Funköffner und fühlte, wie die Last des Tags von ihm abfiel, während sich das Tor lautlos öffnete. So war es an jedem Werktagabend. Nun würde er seine Aktentasche in sein Zimmer stellen und sich dann der Familie widmen. Er verachtete diese Leute, die im Büro nicht fertig wurden oder die gar nicht mehr anders konnten, als zu arbeiten, die Workaholics, die Akten mit nach Hause schleppten und ihre Familien terrorisierten. Nicht so laut, Kinder, Papa arbeitet noch.
Er steuerte den Wagen in die Garage neben den Renault- Van, stieg aus, sah, wie das Tor sich schloss und auch die Garagentür sank, und schritt federnd zur Haustür. Er schloss auf und wurde mit großem Geheul empfangen. Marc und Jonas schossen auf ihn zu und hielten ihn fest. Er brüllte wie ein Tiger, aber das machte die Umklammerung nur fester und das Geschrei lauter. Walzer drehte sich erst in die eine, dann in die Gegenrichtung, und er wiederholte es immer schneller, bis er aussah wie ein Twisttänzer, und endlich löste sich die Umklammerung. Gerade befreit, rannte Walzer los in die Küche und die Jungen hinterher. In der Küche empfing ihn Aurelia mit einem strahlenden Lächeln, und die Kinder, die schreiend in die Küche getrampelt waren, blieben plötzlich stehen und beobachteten, wie Walzer seine Frau in die Arme nahm und lange, fast heftig küsste. Er streichelte ihre schwarzen Haare, die sie seit zwei Wochen kurz trug, und löste seinen Mund, um ihre Schönheit zu bewundern, das schlanke Gesicht mit den hohen Wangenknochen, die mandelförmigen dunkelgrünen Augen, die langen Wimpern, diese perfekte Komposition eines unbekannten Meisters, die eigentlich nur betont wurde durch eine schmale Narbe, die waagerecht über der linken Augenbraue verlief.
Jedes Mal, wenn er sie sah, diese zarte Frau, erinnerte er sich, wie er um sie geworben hatte, monatelang, verzweifelt, doch mit der ihm eigenen ruhigen Beharrlichkeit, die alle inneren Regungen überdeckte. Sie bediente am Wochenende im Hinkelstein, der Marburger Kellerkneipe am Marktplatz mit dem drohend an der Decke über dem Tresen hängenden Menhir. Als er sie zum ersten Mal gesehen hatte, schien es ihm kaum vorstellbar, dass sie hier nächtelang Bier ausschenkte und Fässer rollte, ohne zusammenzuklappen. Es hatte ihn nach einer Betriebswirtschaftsklausur mit Kommilitonen dort hinverschlagen, und als er sie sah in dem lauten, verrauchten Gastraum, packte es ihn binnen weniger Augenblicke. Immerhin verriet sie ihm ihren Namen, Aurelia, die Morgenröte. Aber den hätte sie jedem verraten.
Mehr als vier Monate wartete er jede Wochenendnacht vor dem Hinkelstein und brachte sie nach Hause. Zunächst waren ihre Gespräche eintönig. Genauer gesagt, er fragte in seiner Befangenheit Belangloses, und sie antwortete einsilbig oder gar nicht. Aber sie wehrte sich nicht gegen seine Begleitung, nachdem sie ihn beim ersten Mal ärgerlich angestarrt hatte, um sich abzuwenden und eiligen Schritts nach Hause zu gehen. Da lief er mehr in ihrem Schlepptau als neben ihr. Aber es änderte sich. Er musste sie immer wieder anschauen, ihr Profil war von klassischem Zuschnitt, sie war perfekt. Ihr Gang war geschmeidig und unaufdringlich elegant. In ihrem zarten Körper steckte ungeheuer viel Energie, das spürte er sofort.
Nach drei Wochen begann sie ausführlicher zu antworten. Hatte er zuvor den Eindruck gehabt, dass sie sich zwang, etwas zu sagen, so schien sie jetzt auf seine Fragen zu warten. Vielleicht, so fürchtete er, vielleicht war es ihr sonst öde mit ihm. Er lud sie zum Essen ein, aber das wollte sie nicht. Und er war klug genug, ihr nicht aufzulauern vor dem Mietshaus in der Haspelstraße, wo sie in einer Mansardenwohnung lebte, die zur Straßenseite hin zwei kleine Fenster hatte. Er stellte sich ihre Wohnung oft vor, sie war gewiss ordentlich und sauber und hübsch eingerichtet, aber ein Flokati lag bestimmt nicht auf dem Boden. Er dachte eher an klare Linien, funktionsgerechte Möbel und moderne Malerei an den Wänden.
Nach zwei Monaten wusste er immer noch nicht viel von ihr, außer dass sie Geld verdienen musste, freiwillig würde niemand diesen Knochenjob machen. Sie war müde, wenn sie das Hinkelstein verließ, das las er in ihren Augen, wenn sie ihn unsicher anblickte. Sie studierte Romanistik und Germanistik, aber darin steckte keine besondere Erkenntnis. Allerdings fürchtete er, dass sie ihn, den Betriebswirtschaftler, verachten könnte. Typen, die Manager werden wollten, hatten keinen guten Ruf in dieser Zeit. Und später auch nicht, aber aus anderen Gründen.
Eines Nachts erschien sie nicht. Er wartete, bis die Kneipe geschlossen war, verfluchte sich, dass er drinnen niemanden nach ihr gefragt hatte, und erlebte eine verzweifelte Nacht. Er malte sich aus, dass sie weggezogen war, dass sie nun im Ausland lebte, dass er sie nie wieder sehen würde. Aber am nächsten Tag war sie da, und er lachte voller Freude, als sie ihm mit ihrem ernsten Gesicht entgegenkam. Sie sagte kein Wort zur Erklärung, und er fand, dass sie nichts zu erklären hatte. Er hatte kein Recht auf sie, solange sie es ihm nicht eingeräumt hatte. Und doch, erschüttert und erleichtert, wie er gerade war, fragte er sie, ob sie nicht am Wochenende etwas zusammen unternehmen könnten.
»Ja«, sagte sie sachlich.

An jenem Samstag holte er Aurelia vor dem Mietshaus ab, in dem sie wohnte. Sie hatte sich freigenommen im Hinkelstein, wie sie ihm später beiläufig sagte. Er würde sich immer genau erinnern, wie sie pünktlich aus der Haustür trat im blauen Anorak, darunter ein weißes T-Shirt, schwarze Jeans, die Haare zum Pferdeschwanz gebunden. Sie sieht unternehmungslustig aus, dachte er. Und sie war es. Er nahm sie in den Arm, und sie ließ es geschehen. Zuvor hatte er es sich nicht getraut. Sie roch aufregend nach Rosen, und es fiel ihm schwer, sie loszulassen, auch wenn sie keine Regung zeigte, die ihn dazu hätte bewegen können. Es war ein ungeheurer Augenblick.
Sie fuhren in Walzers Käfer nach Limburg, diese durch und durch schwarze Stadt mit dem alles beherrschenden Dom und dann an der Lahn entlang nach Gießen. Im trägen Fluss spiegelten sich Bäume und Büsche, und am Abend färbte die Sonne das Wasser rot. Unterwegs speisten sie in einem Dorf in einer Gaststätte, und es war schon normal, dass er immer wieder einmal ihre Hand nahm und sie eine Weile hielt. Hand in Hand verließen sie die Gaststätte. Was sie gegessen hatten, wusste er da schon nicht mehr. Seitdem trug er den Zauber eines Tags mit grauem Himmel in sich, aus dem es hin und wieder tröpfelte, bis der Sonnenuntergang alles in seinen Kitsch eintauchte. Die Erinnerung an diese Stunden trübte sich nie, nicht einmal, nachdem er ihre schwarze Seite kennengelernt hatte. Die schwarze Seite, so nannte er das.

***

Plötzlich stand Georgie vor ihm, im Standardoutfit: Mützenjacke, Jeans, Turnschuhe. Er sah dünner aus als sonst, und als Stachelmann das Gesicht seines Freundes musterte, entdeckte er die Spuren des Schlafmangels, die Augen waren kaninchenrot. Zwar hatte Georgie vor ein paar Tagen eher nebenbei gesagt, dass er Stachelmann unterstützen wollte bei dieser trostlosen Restitutionssache Rosenzweig, aber das glaubte Stachelmann erst in diesem Augenblick, als Georgie tatsächlich im Lesesaal des Bundesarchivs in Berlin-Lichterfelde aufgetaucht war. Stachelmann deutete auf den Platz neben sich und schob einen Aktenordner hinüber. »Wir suchen Verträge, Briefe mit Zusicherungen oder Ähnliches.«
»Hm, dann suchen wir mal.« Er hatte gar keine Lust. Stachelmann kannte diesen Zustand, in dem ihm Georgie vorkam wie ein halber Autist. Und er hatte immer noch nicht begriffen, was in diesen Phasen in ihm vorging. Sie waren unberechenbar. Manchmal dauerten sie Tage, manchmal Minuten. Er hatte aber gelernt, dass es sinnlos wäre, Georgie aus dieser Lethargie herausholen zu wollen. Er unterstellte, dass der Freund sich nicht gut fühlte, wenn es so stand mit ihm, aber beschworen hätte er es nicht. Er bildete sich ein, dass diese autistischen Zeiten vermehrt auftraten, seit er sich entschlossen hatte, die Fernbeziehung mit Valentina zu versuchen. Und dass Georgie in dem Maß übellaunig wurde, wie Stachelmann sein Glück lebte und sich wenigstens einredete, die stets wartenden Depressionen umschiffen zu können wie ein kluger Steuermann gefährliche Klippen, die es nur gab, um Schiffe tödlich aufzuschlitzen. Es ging ihm erstaunlich gut, und er genoss sogar die kleinen Spannungen und Ärgernisse, die Streitereien und die immer wieder aufbrechende Unzufriedenheit Valentinas, weil er glaubte, eine Liebe müsse das nicht nur aushalten, sondern bestehe auch daraus; aus kleinen Misshelligkeiten gegen die Erstarrung in Ritualen, die eine Liebesbeziehung von Reibungen befreiten, um sie schließlich auszuhöhlen und abzutöten. Diese Gedanken keimten seit einigen Monaten in ihm, und er verarbeitete so nicht nur seine neue Liebe, sondern auch das Ende der alten, die, wie er inzwischen fand, eher schäbig verkümmert war.
Georgies Autismusübungen konnten ihn nicht mehr irritieren, er nahm sie hin wie Naturgewalten. Immerhin blätterte Georgie in dem Ordner, und er blätterte nicht nur, sondern las auch, wie Stachelmann in einem von Georgie genau registrierten Seitenblick feststellte. Stachelmann wusste, dass er jetzt keinerlei Kritik andeuten durfte. Das wäre etwa so, als würde er mit einer entsicherten Handgranate Ball spielen.
»Heute Abend bin ich mit einem Kollegen bei dem Italiener auf der anderen Straßenseite verabredet«, flüsterte Stachelmann, um sich Anraunzer von Lesesaalnutzern zu ersparen, die aber nichts daran fanden, andere mit dem Windows-Start-Sound zu beglücken, wenn sie ihre Notebooks einschalteten.
»Ich komme mit«, sagte Georgie. Er war wirklich unberechenbar.

Rehmer wartete schon und blickte einen Augenblick verwirrt, als er erkannte, dass Stachelmann nicht allein auftauchte. Er schien unwirsch zu werden, jedenfalls runzelte er die Stirn, und die Augenlider flatterten ein wenig, als weigere er sich, Georgie anzusehen. Doch dann erhob er sich und begrüßte erst Stachelmann und dann Georgie, nachdem dieser ihn als seinen Mitarbeiter vorgestellt hatte. Danach saßen sie schweigend am Tisch. Ein kräftiger Mann mit dickem Bauch erschien, er hielt eine Tafel in der Hand, auf der die aktuellen Gerichte geschrieben standen. Rehmer blinzelte wieder – vielleicht war das seine Masche und hatte nichts mit Georgie zu tun –, dann bestellte er einen gegrillten Wolfsbarsch und einen Pinot Grigio. Beim Wein schloss Stachelmann sich an, entschied sich aber für den Lachs, wogegen Georgie eine Cola bestellte und Spaghetti Bolognese. Daraufhin verschwand der Mann mit der Tafel, und sie schwiegen wieder. Gemurmel, Lachen, Klappern von anderen Tischen füllte den Raum, dann auch zischend die Espressomaschine.
»An was arbeiten Sie, wenn ich fragen darf?«, fragte Stachelmann, um das Schweigen zu brechen.
Rehmer wiegte seinen knochigen Schädel hin und her, dann stierte er Stachelmann an, wackelte noch einmal mit dem Schädel, um schließlich zu sagen: »Eine ganz heikle Sache. Ganz heikle Sache. Ich kann darüber wenig sagen, bin aber sicher, dass es Sie interessieren wird, wenn ich es publiziere.«
Stachelmann unterdrückte ein Gähnen. Die Furcht des einen Historikers vor dem anderen Historiker, vor dem geistigen Diebstahl, wie albern. Stachelmann hatte noch nie ein Geheimnis gemacht aus seinen Projekten, und er war noch nie bestohlen worden.
»Und Sie?«, fragte Rehmer.
»Eine Restitutionssache, eine elende Sucherei nach Verträgen und Briefen, die angeblich beweisen, was mein Auftraggeber behauptet. Ohne Grundbucheinträge läuft bei Immobilien kaum etwas, da muss man schon Handfestes auf den Tisch legen. Und das will und soll ich finden. Am Ende geht’s um das liebe Geld, wie immer.«
»Und finden Sie es?«
»Glaube ich nicht.« Stachelmann spürte die Mutlosigkeit, die ihn überwältigen wollte. Gut, er wurde bezahlt für diesen Job, aber Erfolglosigkeit kratzte an seinem Selbstwertgefühl. Er würde zwar das Honorar für die Suche kassieren, aber er hätte ein schlechtes Gewissen dabei.
»Bei meinem Projekt geht es auch um Geld. Um Millionen, Milliarden vielleicht«, sagte Rehmer plötzlich. Er wiegte wieder den Schädel, als könnte dies seine Aussage noch bedeutender machen.
»Und wann werden Sie darüber schreiben?«
Rehmer hob die Achseln und ließ sie langsam wieder sinken. »Das kann noch Jahre dauern. Ich muss verschlungenen Pfaden folgen, keineswegs nur in Archiven. Keineswegs. Ich bin eigentlich erst am Anfang meiner Suche, aber nun weiß ich endlich genug, um sicher zu sein, dass ich richtig liege. Sicher zu sein. Gefühlt hatte ich es schon lange, aber nun zeichnet sich da etwas ab. Zeichnet sich ab.«
Georgie musterte den Mann wie beiläufig und stierte dann auf eine weit entfernte Stelle, die nur in seinem Auge lag. Stachelmann kannte den Blick. Georgie hielt Rehmer offenbar für einen Aufschneider. Das mochte sein. Und Georgie langweilte sich, aber vermutlich hätte ihm in seinem tristen Zustand auch die spannendste Geschichte der Welt bestenfalls ein herzhaftes Gähnen abgenötigt.
»Und was zeichnet sich ab?«, fragte Georgie mit Ungeduld in der Stimme.
»Ein Komplott, ein gigantisches Komplott. Eine der größten Verschwörungen der Weltgeschichte.«